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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0073
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46 Schopenhauer als Erzieher

de siede) vgl. Benne 2012, 407-426. Vgl. zu Brandes auch NK 338, 27-29 (kri-
tisch zur Thematik der ,öffentlichen Meinung' in UB III SE) sowie den Brandes-
Abschnitt in Kapitel II.8 des Überblickskommentars zu UB II HL.
Den Gehalt von UB III SE referiert Brandes in seinem N.-Buch relativ aus-
führlich (vgl. Brandes 2004, 36-46), und zwar mit Seitenblicken auf Kierke-
gaard (ebd., 37) und Schopenhauer (ebd., 39). Dabei betont er besonders die
unkonventionelle Mentalität der „Hochbegabte[n], welche die Menge an sich
ziehen und nicht von ihr gezogen werden. Das, was man den Zeitgeist nennt,
entsteht zuerst in ganz wenigen Gehirnen" (ebd., 40). „Sowohl Renan wie Flau-
bert würden Nietzsches Grundidee unterschreiben, daß ein Volk der Umweg
ist, den die Natur macht, um ein Dutzend großer Männer hervorzubringen"
(ebd., 42). Unbeantwortet sieht Brandes dabei allerdings „die Hauptfrage [...],
ob denn diese größten Menschen nicht wiederum Ziele haben, [...] die sich
nicht auf ihre Selbsterhaltung beschränken" (ebd., 43). Insofern vermittelt er
den Geistesaristokratismus auch mit Interessen der Gesellschaft: Zwar fasst er
„die große Persönlichkeit" keineswegs „nur als Mittel zum Zweck oder als Die-
ner der Menschheit" auf, sondern als „Selbstzweck", aber zugleich erklärt er,
der „große Mensch" bringe „eben dadurch etwas hervor, das auf irgendeine
Weise unzähligen Geschlechtern zugute kommt" (ebd., 60). Summarisch kon-
statiert Brandes: „Nietzsches Wert beruht darauf, daß er der Träger einer sol-
chen, wirklichen Kultur ist: ein Geist, der, selbst unabhängig, Unabhängigkeit
mitteilt und der für andere jene befreiende Macht werden kann, die Schopen-
hauer in seiner Jugend für ihn wurde" (ebd., 46).
In seinem Buch Schopenhauer und Nietzsche. Ein Vortragszyklus (1907, 2.
Aufl. 1920) schließt Georg Simmel implizit an geistesaristokratische Zielpro-
jektionen N.s in UB II HL und UB III SE an, um ihre „kulturpsychologische"
Bedeutung zu erhellen (ebd., 220), sie zugleich aber auch kritisch zu hinterfra-
gen. Dabei bezieht sich Simmel auf Konzepte, die schon N.s Vorstellung kultu-
reller Entwicklung in UB II HL prägen, dann sein Geniekonzept in UB III SE
bestimmen und sich darüber hinaus bis in sein Spätwerk fortsetzen. Charakte-
ristisch für den elitären Individualismus, den N. mit einem „Glauben an die
Humanität" vermittelt (KSA 1, 259, 17), ist in UB II HL seine ausdrucksstarke
Imagination, dass „die grossen Momente im Kampfe der Einzelnen eine Kette
bilden, dass in ihnen ein Höhenzug der Menschheit durch Jahrtausende hin
sich verbinde" (KSA 1, 259, 12-14). Vgl. dazu NK 259, 9-32 und NK 317, 12-22. In
UB III SE prolongiert sich diese geistesaristokratische Berg- und Gipfel-Meta-
phorik in N.s Vision vom gefährlichen Leben „am hohen Gebirge" (366, 30)
und in seiner Vorstellung vom Aufstieg des Denkers „in die reine Alpen- und
Eisluft" (381, 6). Auf diese expressiven Bilder N.s nimmt Simmel Bezug, wenn
er ausdrücklich auf die Vorstellung vom „Höhenzug der Menschheit" zurück-
 
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