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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0075
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48 Schopenhauer als Erzieher

Simmel selbst erblickt zwar die „zutreffendste Analogie der Nietzsche-
schen Wertungsmaxime" darin, dass man gemeinhin Künstler „ausschließlich
als Schöpfer ihrer höchsten Werke" beurteilt und ihre mediokren Arbeiten
in der Gesamteinschätzung ignoriert (ebd., 226-227). Aber dennoch distanziert
er sich von N.s exklusivem Geistesaristokratismus, weil er selbst das „wirkliche
Ich" gerade „nicht in dem Außerordentlichen", sondern im „Dauernden" und
Gewohnt-Verlässlichen situiert und darin zugleich „die tiefste philosophische
Wendung der demokratischen Tendenz" erblickt (ebd., 221). Für N. hingegen
zähle allein „die jeweils höchste Spitze", um das Niveau des „Typus Mensch"
zu bestimmen (ebd., 223). Dabei fungiere der „Höhepunkt menschlicher Quali-
täten" für ihn keineswegs als „Mittel zu irgendeinem sozialen Gut oder Fort-
schritt", sondern sei „ihm schlechthin Selbstzweck" (ebd., 223).
An N.s programmatische Feststellung, „die Menschheit soll fortwährend
daran arbeiten, einzelne grosse Menschen zu erzeugen" (383, 32 - 384, 1), weil
„das Ziel der Menschheit [...] nur in ihren höchsten Exemplaren" liegen könne
(KSA 1, 317, 24-26), schließt auch Max Scheler in nachgelassenen Aufzeich-
nungen von ca. 1912 bis 1927 implizit an. Dieses anthropologische Telos, das
N. in UB II HL und UB III SE als „Aufgabe" der Menschheit bzw. der Geschichte
definiert (KSA 1, 317, 22; 384, 2), prolongiert sich in Schelers anthropologischen
Entwürfen, die durch den mehrfach vorkommenden Begriff ,Elite' gleichfalls
den Geistesaristokratismus N.s weiterführen. Belege für diese Grundtendenz
finden sich in Schelers „Nietzsche-Heft" (Signatur der Bayerischen Staatsbib-
liothek München: Ana 315, B.I.21), einer 1927 angelegten, bislang noch nicht
vollständig publizierten Kladde von 164 Seiten (transkribiert von Maria Sche-
ler), deren komplette Edition Wolfhart Henckmann derzeit vorbereitet, sowie
in weiteren nachgelassenen Aufzeichnungen Schelers. [Die detaillierte Binnen-
gliederung des „Nietzsche-Heftes" ergibt sich durch zahlreiche thematische
Komplexe aus jeweils nur wenigen Seiten.
Schon im Nachlass-Dokument „B.III.35" zur „Biologie und Psychologie" (ca.
1912) schließt Scheler implizit an N. an, wenn er behauptet, „der Wert der
Menschheit" liege „in ihren ,höchsten Exemplaren'" (B.III.35). Im Nachlass-Do-
kument „B.I.22: Evolution, Einheit des Lebens, 32-33 (1927)" versucht er einen
individualistischen Geistesaristokratismus mit Gattungsinteressen zu vermit-
teln, indem er erklärt: „Die Menschheit kann nicht direkt; sie kann nur über
den Umweg ihrer ,höchsten Exemplare' gefördert werden. / Und das ist das un-
bew[ußte] Streben der in Parteien ungeteilten Völker und Kulturkreise selbst -
ihre Genien, Heilige, Helden zu suchen" (B.I.22). Für die Förderung von „höch-
sten Exemplaren" argumentiert Scheler ausdrücklich nicht im Sinne eines in-
dividualistischen „Selbstzweck[s]", sondern im Hinblick darauf, was „,für' die
Menschheit das schlechthin ,beste' ist" (B.I.22). Mit dieser Aussage orientiert er
 
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