54 Schopenhauer als Erzieher
„bei weitem der wichtigste zu sein"; denn er „enthält in nuce den ganzen Nietz-
sche. Da haben wir alles, was uns an diesem einzigartigen Denker auch heute
noch da begeistert, dort mit Unmut erfüllt: die eindringliche, suggestive Bered-
samkeit, die aber stets in Gefahr steht, zur Geschwätzigkeit zu werden; die
Neigung zur Megalomanie; die Intensität des [...] Stils; die polemische Wucht,
über der man nur allzu leicht den eigentlichen Sinn der Aussage vergißt; die
spezifisch Nietzsche'sche Art der Menschenverachtung [...]; der verbale Exzeß,
der heute noch manche Denker fasziniert [...]" (Jean Amery [1975] 2004, 395-
396). Allerdings konstatiert Jean Amery auch: „der Titel steht fremd, ja irrefüh-
rend über der Schrift. Der Leser erfährt von Schopenhauer sehr wenig"; und
dies ist „Projektion eigener Problematik und Vorwand zu zeitkritischer Pole-
mik" (ebd., 396). Und Amery fährt fort: „Nietzsche hat nicht dazu beigetragen,
daß Schopenhauer zum Erzieher werde. Er konnte es nicht, denn er selber war
unerziehbar [...], ein Einzelner. Er spricht sehr viel von Schopenhauers Verein-
samung, aber es ist seine eigene Einsamkeit, die er meint" (ebd., 396).
Jean Amery sieht die von N. in UB III SE erhobene „Forderung nach dem
wildwachsenden Philosophen, der keiner staatlichen Anerkennung sich er-
freut", später von „Denker[n] jenseits der Institutionen" wie Sigmund Freud,
Oswald Spengler und Jean-Paul Sartre realisiert (Jean Amery [1975] 2004, 407-
408). In N.s zeitkritischer Kulturdiagnose erblickt Amery „eine Empörung ge-
gen das Menschenbild, das ihm der Kapitalismus seiner Tage präsentierte"
(ebd., 403); dadurch sieht er Aspekte einer „modernen anarchistischen Anthro-
pologie" antizipiert, wie sie im 20. Jahrhundert Michel Foucault und Gilles
Deleuze vertreten (ebd., 404). Darüber hinaus attestiert Jean Amery UB III SE,
diese Schrift enthalte „im Keim den ganzen späteren Nietzsche" und verweise
auch mit ihren „megalomanischen und autistischen Züge[n] [...] über Nietz-
sches Zeit hinaus in die unsere"; zudem markiere sie „die Bruchstelle, die
Nietzsches gesammeltes Schaffen für die Geistesgeschichte bedeutete" (ebd.,
408). Denn da N. „gleichsam die Brücken hinter sich verbrannte", gibt es „von
ihm aus keinen Rückweg zum Christentum, zur idealistischen Philosophie,
zum Humanismus des achtzehnten Jahrhunderts"; so wurde er selbst zum
„Verkünder einer Morgenröte, die niemals anbrach, einer fröhlichen Wissen-
schaft, die nicht errungen wurde" (ebd., 408). In welchem Maße Jean Amery
N.s UB III SE darüber hinaus sogar Aktualität zuspricht, zeigt seine apodikti-
sche Schlussthese: „Der Essay ,Schopenhauer als Erzieher' führt uns auf kür-
zestem Wege nicht nur in Nietzsches Gedankenwelt, sondern auch in unsere
Gegenwart" (ebd., 409).
„bei weitem der wichtigste zu sein"; denn er „enthält in nuce den ganzen Nietz-
sche. Da haben wir alles, was uns an diesem einzigartigen Denker auch heute
noch da begeistert, dort mit Unmut erfüllt: die eindringliche, suggestive Bered-
samkeit, die aber stets in Gefahr steht, zur Geschwätzigkeit zu werden; die
Neigung zur Megalomanie; die Intensität des [...] Stils; die polemische Wucht,
über der man nur allzu leicht den eigentlichen Sinn der Aussage vergißt; die
spezifisch Nietzsche'sche Art der Menschenverachtung [...]; der verbale Exzeß,
der heute noch manche Denker fasziniert [...]" (Jean Amery [1975] 2004, 395-
396). Allerdings konstatiert Jean Amery auch: „der Titel steht fremd, ja irrefüh-
rend über der Schrift. Der Leser erfährt von Schopenhauer sehr wenig"; und
dies ist „Projektion eigener Problematik und Vorwand zu zeitkritischer Pole-
mik" (ebd., 396). Und Amery fährt fort: „Nietzsche hat nicht dazu beigetragen,
daß Schopenhauer zum Erzieher werde. Er konnte es nicht, denn er selber war
unerziehbar [...], ein Einzelner. Er spricht sehr viel von Schopenhauers Verein-
samung, aber es ist seine eigene Einsamkeit, die er meint" (ebd., 396).
Jean Amery sieht die von N. in UB III SE erhobene „Forderung nach dem
wildwachsenden Philosophen, der keiner staatlichen Anerkennung sich er-
freut", später von „Denker[n] jenseits der Institutionen" wie Sigmund Freud,
Oswald Spengler und Jean-Paul Sartre realisiert (Jean Amery [1975] 2004, 407-
408). In N.s zeitkritischer Kulturdiagnose erblickt Amery „eine Empörung ge-
gen das Menschenbild, das ihm der Kapitalismus seiner Tage präsentierte"
(ebd., 403); dadurch sieht er Aspekte einer „modernen anarchistischen Anthro-
pologie" antizipiert, wie sie im 20. Jahrhundert Michel Foucault und Gilles
Deleuze vertreten (ebd., 404). Darüber hinaus attestiert Jean Amery UB III SE,
diese Schrift enthalte „im Keim den ganzen späteren Nietzsche" und verweise
auch mit ihren „megalomanischen und autistischen Züge[n] [...] über Nietz-
sches Zeit hinaus in die unsere"; zudem markiere sie „die Bruchstelle, die
Nietzsches gesammeltes Schaffen für die Geistesgeschichte bedeutete" (ebd.,
408). Denn da N. „gleichsam die Brücken hinter sich verbrannte", gibt es „von
ihm aus keinen Rückweg zum Christentum, zur idealistischen Philosophie,
zum Humanismus des achtzehnten Jahrhunderts"; so wurde er selbst zum
„Verkünder einer Morgenröte, die niemals anbrach, einer fröhlichen Wissen-
schaft, die nicht errungen wurde" (ebd., 408). In welchem Maße Jean Amery
N.s UB III SE darüber hinaus sogar Aktualität zuspricht, zeigt seine apodikti-
sche Schlussthese: „Der Essay ,Schopenhauer als Erzieher' führt uns auf kür-
zestem Wege nicht nur in Nietzsches Gedankenwelt, sondern auch in unsere
Gegenwart" (ebd., 409).