60 Schopenhauer als Erzieher
ihre Zeit zu tödten und sammt ihrer Zeit unterzugehen - während sie die Zeit
vielmehr zum Leben erwecken wollen, um in diesem Leben selber fortzuleben.]
Mit diesem Lob des Anachronismus verbindet N. insofern eine Umwertung der
,Unzeitgemäßheit' ins Positive, als er durch sie die Zukunft ermöglicht sieht.
Dabei entspricht der individuellen Perspektive seines Erachtens die kulturge-
schichtliche Dimension: Denjenigen, die nicht über die Gegenwart hinauszu-
denken vermögen, zieht N. die Unzeitgemäßen vor, die durch ihren Beitrag zur
künftigen kulturellen Entwicklung auch selbst über die endliche Lebensdauer
hinaus weiterexistieren können. So erscheint Unzeitgemäßheit als ein Quali-
tätskriterium sui generis, das fortwährende Präsenz im kulturellen Gedächtnis
ermöglicht. - In der Reinschrift, die als Vorlage des Druckmanuskripts fungier-
te, findet sich die folgende Variante, die durch das Personalpronomen der 1.
Person Plural N.s identifikatorisches Verhältnis zur Thematik der Unzeitgemäß-
heit noch deutlicher erkennen lässt: „dürfen wir dagegen sein, die wir nicht
Bürger dieser Zeit sind! denn wären wir dies, so würden wir mit dazu dienen,
ihre Zeit zu tödten - während wir als Thätige" (KSA 14, 74).
339, 20-22 folglich wollen wir auch die wirklichen Steuermänner dieses Daseins
abgeben und nicht zulassen, dass unsre Existenz einer gedankenlosen Zufällig-
keit gleiche] Die Leitmetapher der Seefahrt als bildhafte Vorstellung für den
wechselhaften, durch vielfältige Risiken gefährdeten Lebensweg weist auf eine
bis in die Antike zurückreichende Tradition, die auch in Goethes Gedicht See-
fahrt weiterwirkt (vgl. Neymeyr 1998, 29-44 und 2017, 230-240). In der stoi-
schen Philosophie gehört der Topos der Seefahrt zum Repertoire. Seneca be-
schreibt den Weisen wiederholt als ,Steuermann'. Vgl. dazu seine Schriften
Epistulae morales (85, 37; 88, 7; 108, 37), De providentia (4, 5; 5, 9-10) Ad Marci-
am de consolatione (6, 3). - Im Rahmen der stoischen Philosophie steht fortuna
für das Zufallsprinzip, das unkalkulierbare, unzuverlässige Schicksal, das
Glück und Unglück einschließt. Gemäß den Postulaten der stoischen Ethik soll
der Mensch den Widrigkeiten des Schicksals mit virtus und fortitudo begeg-
nen, also mit Tugend und Tapferkeit, um den Einfluss der ,Zufälligkeit' auf
sein Leben zu reduzieren (vgl. Neymeyr/Schmidt/Zimmermann 2008a).
Auch N. greift auf das facettenreiche semantische Feld der Seefahrtsmeta-
phorik zurück, die zu den wirkungsmächtigen Topoi der Kulturgeschichte
zählt. In der Fröhlichen Wissenschaft setzt er die Seefahrtsmetaphorik ein, um
die Vorstellung einer Abenteurer-Existenz mit dem Postulat intellektueller Er-
oberung neuer Denkwelten zu amalgamieren und zugleich mit der Imago eines
mediterranen Lebensgefühls von besonderer Intensität zu vermitteln. So for-
muliert N. die emphatischen Imperative: „gefährlich leben! Baut eure
Städte an den Vesuv! Schickt eure Schiffe in unerforschte Meere!" (KSA 3, 526,
31-32). Das existentielle Wagnis der Seefahrer angesichts der Gefahr von Stür-
ihre Zeit zu tödten und sammt ihrer Zeit unterzugehen - während sie die Zeit
vielmehr zum Leben erwecken wollen, um in diesem Leben selber fortzuleben.]
Mit diesem Lob des Anachronismus verbindet N. insofern eine Umwertung der
,Unzeitgemäßheit' ins Positive, als er durch sie die Zukunft ermöglicht sieht.
Dabei entspricht der individuellen Perspektive seines Erachtens die kulturge-
schichtliche Dimension: Denjenigen, die nicht über die Gegenwart hinauszu-
denken vermögen, zieht N. die Unzeitgemäßen vor, die durch ihren Beitrag zur
künftigen kulturellen Entwicklung auch selbst über die endliche Lebensdauer
hinaus weiterexistieren können. So erscheint Unzeitgemäßheit als ein Quali-
tätskriterium sui generis, das fortwährende Präsenz im kulturellen Gedächtnis
ermöglicht. - In der Reinschrift, die als Vorlage des Druckmanuskripts fungier-
te, findet sich die folgende Variante, die durch das Personalpronomen der 1.
Person Plural N.s identifikatorisches Verhältnis zur Thematik der Unzeitgemäß-
heit noch deutlicher erkennen lässt: „dürfen wir dagegen sein, die wir nicht
Bürger dieser Zeit sind! denn wären wir dies, so würden wir mit dazu dienen,
ihre Zeit zu tödten - während wir als Thätige" (KSA 14, 74).
339, 20-22 folglich wollen wir auch die wirklichen Steuermänner dieses Daseins
abgeben und nicht zulassen, dass unsre Existenz einer gedankenlosen Zufällig-
keit gleiche] Die Leitmetapher der Seefahrt als bildhafte Vorstellung für den
wechselhaften, durch vielfältige Risiken gefährdeten Lebensweg weist auf eine
bis in die Antike zurückreichende Tradition, die auch in Goethes Gedicht See-
fahrt weiterwirkt (vgl. Neymeyr 1998, 29-44 und 2017, 230-240). In der stoi-
schen Philosophie gehört der Topos der Seefahrt zum Repertoire. Seneca be-
schreibt den Weisen wiederholt als ,Steuermann'. Vgl. dazu seine Schriften
Epistulae morales (85, 37; 88, 7; 108, 37), De providentia (4, 5; 5, 9-10) Ad Marci-
am de consolatione (6, 3). - Im Rahmen der stoischen Philosophie steht fortuna
für das Zufallsprinzip, das unkalkulierbare, unzuverlässige Schicksal, das
Glück und Unglück einschließt. Gemäß den Postulaten der stoischen Ethik soll
der Mensch den Widrigkeiten des Schicksals mit virtus und fortitudo begeg-
nen, also mit Tugend und Tapferkeit, um den Einfluss der ,Zufälligkeit' auf
sein Leben zu reduzieren (vgl. Neymeyr/Schmidt/Zimmermann 2008a).
Auch N. greift auf das facettenreiche semantische Feld der Seefahrtsmeta-
phorik zurück, die zu den wirkungsmächtigen Topoi der Kulturgeschichte
zählt. In der Fröhlichen Wissenschaft setzt er die Seefahrtsmetaphorik ein, um
die Vorstellung einer Abenteurer-Existenz mit dem Postulat intellektueller Er-
oberung neuer Denkwelten zu amalgamieren und zugleich mit der Imago eines
mediterranen Lebensgefühls von besonderer Intensität zu vermitteln. So for-
muliert N. die emphatischen Imperative: „gefährlich leben! Baut eure
Städte an den Vesuv! Schickt eure Schiffe in unerforschte Meere!" (KSA 3, 526,
31-32). Das existentielle Wagnis der Seefahrer angesichts der Gefahr von Stür-