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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0089
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62 Schopenhauer als Erzieher

340, 16-20 Zudem ist es ein quälerisches gefährliches Beginnen, sich selbst der-
artig anzugraben und in den Schacht seines Wesens auf dem nächsten Wege
gewaltsam hinabzusteigen. Wie leicht beschädigt er sich dabei so, dass kein Arzt
ihn heilen kann.] Mit dieser Metaphorik knüpft N. an das Bergwerksmotiv an,
das in der Literatur der Romantik besondere Bedeutung hatte und in Novalis'
Roman Heinrich von Ofterdingen, Tiecks Erzählung Der Runenberg und E.T.A.
Hoffmanns Erzählung Die Bergwerke zu Falun eine zentrale Rolle spielt. In sym-
bolischer Verdichtung repräsentiert das Bergwerk für die Romantiker sowohl
das Faszinosum der Innerlichkeit als auch das Risiko, sich in ihr wie in einem
Schacht zu verlieren und dadurch zugrunde zu gehen.
340, 33 - 341, 1 dein wahres Wesen liegt nicht tief verborgen in dir, sondern
unermesslich hoch über dir] Hier erweitert N. den Wesensbegriff über die bloße
Faktizität des bereits Vorhandenen hinaus um die Dimension des Idealen: Das
,wahre Wesen' des Menschen bestimmt er als ein ideales Telos, das als Impuls
für seine künftige Entwicklung fungieren soll - als eine Utopie der Selbstver-
vollkommnung. - Hölderlin, der zu den Lieblingsdichtern N.s gehörte (vgl.
KSB 3, Nr. 28, S. 51), entwickelte dieses Konzept in seinem Briefroman Hyperion
und brachte es zugleich auch im programmatischen Namen seines Protagonis-
ten zum Ausdruck: Hyper-ion, der ,Darüberhingehende', in der Höhe Wandeln-
de, ist ein Beiname des Sonnengottes Helios. Sich ihm anzunähern, sollte das
idealistische Ziel Hyperions sein. Vermutlich ist N.s Vorstellung des ,wahren
Wesens' im vorliegenden Kontext von UB III SE auch durch Hölderlins Hyper-
ion angeregt. - Vor allem aber hatte er eine Maxime im Sinn, die sich in der
Zweiten Pindarischen Ode findet. N. selbst hat diesen Appell des Autors Pin-
dar, auf den er im Zeitraum von 1869 bis 1888 wiederholt zu sprechen kommt,
mehrfach so übersetzt: „Werde der, der du bist". In den Jahren von 1876 bis
1882 finden sich mehrere Belege dafür. So konstatiert N. in einem nachgelasse-
nen Notat von 1876: „,Werde der, der du bist': das ist ein Zuruf, welcher im-
mer nur bei wenig [sic] Menschen erlaubt, aber bei den allerwenigsten dieser
Wenigen überflüssig ist" (NL 1876, 19 [40], KSA 8, 340). Später zitiert er diese
antike Maxime in einem Brief an Lou von Salome auch explizit unter Berufung
auf Pindar. So schreibt er ihr vermutlich am 10. Juni 1882: „Pindar sagt einmal
,werde der, der du bist!' / Treulich und ergeben / F N." (KSB 6, Nr. 239,
S. 203).
341, 2-6 Deine wahren Erzieher und Bildner verrathen dir, was der wahre Ur-
sinn und Grundstoff deines Wesens ist, etwas durchaus Unerziehbares und Un-
bildbares, aber jedenfalls schwer Zugängliches, Gebundenes, Gelähmtes: deine
Erzieher vermögen nichts zu sein als deine Befreier.] Der auch autobiographi-
sche Bezug dieser Aussage erhellt daraus, dass N. Schopenhauer wenig später
 
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