Stellenkommentar UB III SE 2, KSA 1, S. 344-345 73
den Verlust genuiner Substanz, der epigonale Schattenexistenzen entstehen
lässt. - Im Jahre 1847 diagnostiziert der Schriftsteller und Literaturhistoriker Ro-
bert Prutz die Epigonenproblematik. In seinen Vorlesungen über die deutsche
Literatur der Gegenwart spricht er von „Epigonen", „welche die Erbschaft ihrer
großen Vorfahren weder zu erhalten wissen, noch wissen sie dieselbe zu entbeh-
ren! die nicht leben könnten ohne die Größe und den Ruhm ihrer Vorgänger",
von denen sie sich zugleich „erdrückt fühlen" (Prutz 1975, 248).
In UB II HL kritisiert N. den „lähmende[n]" Glauben, „ein Spätling der Zei-
ten zu sein" (KSA 1, 308, 12), und empfiehlt anstelle epigonaler Retrospektive
einen „vorwärts" gerichteten Blick: „Formt in euch ein Bild, dem die Zukunft
entsprechen soll, und vergesst den Aberglauben, Epigonen zu sein" (KSA 1,
295, 6-7). Trotz der problematischen Folgen einer historisierenden Bildungs-
kultur deutet N. die Situation der „Erben und Nachkommen klassischer und
erstaunlicher Mächte" sogar positiv (KSA 1, 307, 21-22): als Stimulans, um dem
Geist einer „neuen Zeit" den Boden zu bereiten, in der „wirklich etwas Neues,
Mächtiges, Lebenverheissendes und Ursprüngliches ist" (KSA 1, 306, 11-13).
Symptomatisch erscheint auch die psychologisch pointierte Kulturdiagnose,
die N. in UB I DS entwirft: Hier kritisiert er diejenigen, die „den Begriff des
Epigonen-Zeitalters" benutzen, „nur um Ruhe zu haben und bei allem unbe-
quemen Neueren sofort mit dem ablehnenden Verdikt ,Epigonenwerk' bereit
sein zu können" - aus Hass gegen „den dominirenden Genius und die Tyrannis
wirklicher Kulturforderungen" (KSA 1, 169, 15-31).
345, 1-2 mit einer naturalistischen Ungeübtheit und Unerfahrenheit] Im vorlie-
genden Kontext kritisiert N. einen unbefriedigenden Reduktionismus in den
empiristischen Konzepten der Naturalisten, die moralischen Wertungskriterien
nicht gerecht werden und ein angemessenes „Nachdenken über sittliche Fra-
gen" (344, 28) nicht zu fördern vermögen. - Beim Naturalismus handelt es sich
um ein sehr facettenreiches Phänomen in der Philosophie, Literatur und Kunst
seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Entscheidende programmatische
Impulse für den Naturalismus gingen von Taine aus, der etwa ab 1853 einen
Paradigmenwechsel für die Geisteswissenschaften propagierte: Ausgehend von
einer durchgehenden Kausalverkettung alles Realen, sollten sie sich ebenfalls
an naturwissenschaftlichen Prinzipien und Methoden orientieren, mithin dem
Ideal einer wertfreien Deskription folgen und kausale Erklärungen bieten. Cha-
rakteristisch für naturalistische Tendenzen in der Philosophie ist eine Bevorzu-
gung realistischer Ansätze gegenüber idealistischen Konzepten, die Ausrich-
tung an naturwissenschaftlichen Methoden und positivistischen Prämissen
sowie eine entschiedene Abkehr von metaphysischen, religiösen und mysti-
schen Weltdeutungen. In diesem Sinne bestimmt eine naturalistische Argu-
mentation die Religionskritik Feuerbachs. Und durch Darwins Evolutionstheo-
den Verlust genuiner Substanz, der epigonale Schattenexistenzen entstehen
lässt. - Im Jahre 1847 diagnostiziert der Schriftsteller und Literaturhistoriker Ro-
bert Prutz die Epigonenproblematik. In seinen Vorlesungen über die deutsche
Literatur der Gegenwart spricht er von „Epigonen", „welche die Erbschaft ihrer
großen Vorfahren weder zu erhalten wissen, noch wissen sie dieselbe zu entbeh-
ren! die nicht leben könnten ohne die Größe und den Ruhm ihrer Vorgänger",
von denen sie sich zugleich „erdrückt fühlen" (Prutz 1975, 248).
In UB II HL kritisiert N. den „lähmende[n]" Glauben, „ein Spätling der Zei-
ten zu sein" (KSA 1, 308, 12), und empfiehlt anstelle epigonaler Retrospektive
einen „vorwärts" gerichteten Blick: „Formt in euch ein Bild, dem die Zukunft
entsprechen soll, und vergesst den Aberglauben, Epigonen zu sein" (KSA 1,
295, 6-7). Trotz der problematischen Folgen einer historisierenden Bildungs-
kultur deutet N. die Situation der „Erben und Nachkommen klassischer und
erstaunlicher Mächte" sogar positiv (KSA 1, 307, 21-22): als Stimulans, um dem
Geist einer „neuen Zeit" den Boden zu bereiten, in der „wirklich etwas Neues,
Mächtiges, Lebenverheissendes und Ursprüngliches ist" (KSA 1, 306, 11-13).
Symptomatisch erscheint auch die psychologisch pointierte Kulturdiagnose,
die N. in UB I DS entwirft: Hier kritisiert er diejenigen, die „den Begriff des
Epigonen-Zeitalters" benutzen, „nur um Ruhe zu haben und bei allem unbe-
quemen Neueren sofort mit dem ablehnenden Verdikt ,Epigonenwerk' bereit
sein zu können" - aus Hass gegen „den dominirenden Genius und die Tyrannis
wirklicher Kulturforderungen" (KSA 1, 169, 15-31).
345, 1-2 mit einer naturalistischen Ungeübtheit und Unerfahrenheit] Im vorlie-
genden Kontext kritisiert N. einen unbefriedigenden Reduktionismus in den
empiristischen Konzepten der Naturalisten, die moralischen Wertungskriterien
nicht gerecht werden und ein angemessenes „Nachdenken über sittliche Fra-
gen" (344, 28) nicht zu fördern vermögen. - Beim Naturalismus handelt es sich
um ein sehr facettenreiches Phänomen in der Philosophie, Literatur und Kunst
seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Entscheidende programmatische
Impulse für den Naturalismus gingen von Taine aus, der etwa ab 1853 einen
Paradigmenwechsel für die Geisteswissenschaften propagierte: Ausgehend von
einer durchgehenden Kausalverkettung alles Realen, sollten sie sich ebenfalls
an naturwissenschaftlichen Prinzipien und Methoden orientieren, mithin dem
Ideal einer wertfreien Deskription folgen und kausale Erklärungen bieten. Cha-
rakteristisch für naturalistische Tendenzen in der Philosophie ist eine Bevorzu-
gung realistischer Ansätze gegenüber idealistischen Konzepten, die Ausrich-
tung an naturwissenschaftlichen Methoden und positivistischen Prämissen
sowie eine entschiedene Abkehr von metaphysischen, religiösen und mysti-
schen Weltdeutungen. In diesem Sinne bestimmt eine naturalistische Argu-
mentation die Religionskritik Feuerbachs. Und durch Darwins Evolutionstheo-