Stellenkommentar UB III SE 2, KSA 1, S. 345-346 75
waltet. Der von N. in UB III SE entfaltete Anspruch auf individuelle Selbstver-
vollkommnung korrespondiert im Grundansatz auch mit stoischen Autonomie-
Vorstellungen und wirkt in UB IV WB dann in der Auffassung weiter, dass „der
unfreie Mensch eine Schande der Natur ist" und „dass Jeder, der frei werden
will, es durch sich selber werden muss" (KSA 1, 506, 33 - 507, 2).
Dass N. in UB IV WB jedoch bereits eine deutliche Reserve gegenüber dem
stoischen Ideal der Apatheia und den auf Affektbeherrschung zielenden Postu-
laten der Stoiker erkennen lässt, erklärt sich auch durch seine Begeisterung
für die Musik Richard Wagners, der er „Leidenschaft" als Ausdruck authenti-
scher „Natur" zuspricht (vgl. KSA 1, 491, 9 - 495, 8). Daher behauptet N. in
UB IV WB, „dass die Leidenschaft besser ist, als der Stoicismus und die Heu-
chelei" (KSA 1, 506, 29-30). Später kritisiert er in der Fröhlichen Wissenschaft
und in Jenseits von Gut und Böse die Glückssuggestionen stoischer Moralpredi-
ger, die „Recepte" gegen Leidenschaften aller Art formulieren (KSA 5, 118, 1-
6). Aus der Empfehlung von „Gleichgültigkeit und Bildsäulenkälte gegen die
hitzige Narrheit der Affekte, welche die Stoiker anriethen und ankurirten"
(KSA 5, 118, 20-22), sieht N. eine „beständige Reizbarkeit bei allen natürlichen
Regungen und Neigungen" hervorgehen (KSA 3, 543, 17-18). Daher befürchtet
er seelische Verarmung und eine Reduktion der natürlichen Erlebnisfähigkeit
durch stoische Selbstdisziplinierung (vgl. dazu KSA 3, 543, 22-24). In diesem
Sinne konstatiert N. zuvor bereits in Menschliches, Allzumenschliches II: Die
stoische Erstarrung „verkehrt endlich die Natur" (KSA 2, 471, 4). Und in Jen-
seits von Gut und Böse hinterfragt N. das stoische Prinzip eines ,naturgemäßen
Lebens' in einer mehrgliedrigen subversiven Argumentation (KSA 5, 21, 25 -
22, 28). Vgl. auch NK 261, 11-18. - Zu N.s Ambivalenzen gegenüber dem Stoi-
zismus vgl. Neymeyr 2008c, Bd. 2, 1165-1198 und 2009a, 65-92. Vgl. außerdem
NK 351, 2-5, NK 375, 9-10 und NK 506, 29 - 507, 3.
346, 12-14 einfach und ehrlich, im Denken und Leben, also unzeitgemäss
zu sein, das Wort im tiefsten Verstände genommen] Der ursprünglich tendenziell
pejorative (bestenfalls neutrale) Begriff ,unzeitgemäß' wird hier von N. um-
gewertet und mit positiver Bedeutung ausgestattet. Indem er Schopenhauer
die Qualitäten Einfachheit und Ehrlichkeit attestiert, stellt er ihn als unzeit-
gemäßen Antipoden moderner Kompliziertheit und Unehrlichkeit dar. Wenig
später hebt N. den Anspruch auf „Wahrheit und Ehrlichkeit" als Spezifikum
der „Einsamen und Freien im Geiste" hervor (354, 13-15). Vgl. dazu NK 354,
13-16. Dabei greift er zugleich auf Einschätzungen Schopenhauers zurück, der
wiederholt über die Relation zwischen Mitwelt und Nachwelt reflektiert und in
der Welt als Wille und Vorstellung I schreibt: „Man lese die Klagen großer Geis-
ter, aus jedem Jahrhundert, über ihre Zeitgenossen: stets lauten sie wie von
heute; weil das Geschlecht immer das selbe ist" (WWV I, § 49, Hü 279). - Im
waltet. Der von N. in UB III SE entfaltete Anspruch auf individuelle Selbstver-
vollkommnung korrespondiert im Grundansatz auch mit stoischen Autonomie-
Vorstellungen und wirkt in UB IV WB dann in der Auffassung weiter, dass „der
unfreie Mensch eine Schande der Natur ist" und „dass Jeder, der frei werden
will, es durch sich selber werden muss" (KSA 1, 506, 33 - 507, 2).
Dass N. in UB IV WB jedoch bereits eine deutliche Reserve gegenüber dem
stoischen Ideal der Apatheia und den auf Affektbeherrschung zielenden Postu-
laten der Stoiker erkennen lässt, erklärt sich auch durch seine Begeisterung
für die Musik Richard Wagners, der er „Leidenschaft" als Ausdruck authenti-
scher „Natur" zuspricht (vgl. KSA 1, 491, 9 - 495, 8). Daher behauptet N. in
UB IV WB, „dass die Leidenschaft besser ist, als der Stoicismus und die Heu-
chelei" (KSA 1, 506, 29-30). Später kritisiert er in der Fröhlichen Wissenschaft
und in Jenseits von Gut und Böse die Glückssuggestionen stoischer Moralpredi-
ger, die „Recepte" gegen Leidenschaften aller Art formulieren (KSA 5, 118, 1-
6). Aus der Empfehlung von „Gleichgültigkeit und Bildsäulenkälte gegen die
hitzige Narrheit der Affekte, welche die Stoiker anriethen und ankurirten"
(KSA 5, 118, 20-22), sieht N. eine „beständige Reizbarkeit bei allen natürlichen
Regungen und Neigungen" hervorgehen (KSA 3, 543, 17-18). Daher befürchtet
er seelische Verarmung und eine Reduktion der natürlichen Erlebnisfähigkeit
durch stoische Selbstdisziplinierung (vgl. dazu KSA 3, 543, 22-24). In diesem
Sinne konstatiert N. zuvor bereits in Menschliches, Allzumenschliches II: Die
stoische Erstarrung „verkehrt endlich die Natur" (KSA 2, 471, 4). Und in Jen-
seits von Gut und Böse hinterfragt N. das stoische Prinzip eines ,naturgemäßen
Lebens' in einer mehrgliedrigen subversiven Argumentation (KSA 5, 21, 25 -
22, 28). Vgl. auch NK 261, 11-18. - Zu N.s Ambivalenzen gegenüber dem Stoi-
zismus vgl. Neymeyr 2008c, Bd. 2, 1165-1198 und 2009a, 65-92. Vgl. außerdem
NK 351, 2-5, NK 375, 9-10 und NK 506, 29 - 507, 3.
346, 12-14 einfach und ehrlich, im Denken und Leben, also unzeitgemäss
zu sein, das Wort im tiefsten Verstände genommen] Der ursprünglich tendenziell
pejorative (bestenfalls neutrale) Begriff ,unzeitgemäß' wird hier von N. um-
gewertet und mit positiver Bedeutung ausgestattet. Indem er Schopenhauer
die Qualitäten Einfachheit und Ehrlichkeit attestiert, stellt er ihn als unzeit-
gemäßen Antipoden moderner Kompliziertheit und Unehrlichkeit dar. Wenig
später hebt N. den Anspruch auf „Wahrheit und Ehrlichkeit" als Spezifikum
der „Einsamen und Freien im Geiste" hervor (354, 13-15). Vgl. dazu NK 354,
13-16. Dabei greift er zugleich auf Einschätzungen Schopenhauers zurück, der
wiederholt über die Relation zwischen Mitwelt und Nachwelt reflektiert und in
der Welt als Wille und Vorstellung I schreibt: „Man lese die Klagen großer Geis-
ter, aus jedem Jahrhundert, über ihre Zeitgenossen: stets lauten sie wie von
heute; weil das Geschlecht immer das selbe ist" (WWV I, § 49, Hü 279). - Im