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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0104
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Stellenkommentar UB III SE 2, KSA 1, S. 346 77

te Korrumpierung, die er als „Laster des Philosophen" betrachtet, aber zu-
gleich auch für die Ursache seiner Breitenwirkung hält.
346, 20 Ich gehöre zu den Lesern Schopenhauers] Durch seine Schopenhauer-
Lektüre folgte N. dem Ratschlag des Philosophen selbst, der in der Vorrede zur
2. Auflage der Welt als Wille und Vorstellung I zu dem „heillosen Irrthum" Stel-
lung nimmt, man „könne Kants Philosophie aus den Darstellungen Anderer
davon kennen lernen", und dezidiert erklärt: „Die Kantische Lehre also wird
man vergeblich irgend wo anders suchen, als in Kants eigenen Werken [...]. In
Folge seiner Originalität gilt von ihm im höchsten Grade was eigentlich von
allen ächten Philosophen gilt: nur aus ihren eigenen Schriften lernt man sie
kennen; nicht aus den Berichten Anderer" (WWV I, Hü XXV). Und in seiner
Schrift Ueber die Universitäts-Philosophie betont Schopenhauer generalisie-
rend, „die eigentliche Bekanntschaft mit den Philosophen" ermögliche allein
die Lektüre ihrer Werke, die sich durch philosophiegeschichtliche Darstellun-
gen keineswegs substituieren lasse (PP I, Hü 208). In diesem Sinne distanziert
sich N. in UB III SE ebenfalls von der Haltung des Lesers, der „zwischen sich
und die Dinge Begriffe, Meinungen, Vergangenheiten, Bücher treten lässt"
(410, 3-4). Vgl. auch NK 410, 3-5.
346, 23-25 Mein Vertrauen zu ihm war sofort da und ist jetzt noch dasselbe wie
vor neun Jahren. Ich verstand ihn als ob er für mich geschrieben hätte] N. hatte
das Werk Schopenhauers bereits im Jahre 1865 kennengelernt, also neun Jahre
vor der Publikation von UB III SE im Jahre 1874. In einem Nachlass-Notat des-
selben Jahres gesteht N. allerdings: „Ich bin fern davon zu glauben, dass ich
Schopenhauer richtig verstanden habe, sondern nur mich selber habe ich
durch Schopenhauer ein weniges besser verstehen gelernt; das ist es, weshalb
ich ihm die grösste Dankbarkeit schuldig bin"; dann erklärt er, es sei ihm
„nicht so wichtig [...], dass bei irgend einem Philosophen genau ergründet und
an's Licht gebracht werde, was er eigentlich im strengsten Wortverstande ge-
lehrt habe" (NL 1874, 34 [13], KSA 7, 795-796). Diese Aussagen dokumentieren
den hohen Stellenwert einer identifikatorischen Schopenhauer-Lektüre für N.,
dem die Vorbildfunktion des authentischen Beispiels in seiner Frühphase viel
bedeutete. In diesem Sinne erklärt N. in UB III SE prononciert: „Ich mache mir
aus einem Philosophen gerade so viel als er im Stande ist ein Beispiel zu ge-
ben" (350, 23-24).
346, 26-28 Daher kommt es, dass ich nie in ihm eine Paradoxie gefunden habe,
obwohl hier und da einen kleinen Irrthum] Das positive, mitunter enthusiasti-
sche Schopenhauer-Bild, das auch etliche Briefe N.s belegen, hatte sich kaum
mehr als zwei Jahre nach der Publikation von UB III SE bereits deutlich verän-
dert. So fragt er Cosima Wagner am 19. Dezember 1876: „werden Sie sich wun-
 
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