Metadaten

Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0118
License: In Copyright
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
Stellenkommentar UB III SE 3, KSA 1, S. 350-351 91

Konzentration durch „Verengerung der Perspektive" voraussetze (KSA 5,
110, 1-2), erweitere eine kluge Selbstbeschränkung des Menschen in diesem
Sinne auch seinen geistigen Aktionsradius. Moralische Selbstformierung (etwa
nach Prinzipien der stoischen Philosophie) wird nach N.s Vorstellung zum un-
entbehrlichen Movens kultureller Entwicklung und erhält überdies - gerade
angesichts drohender Decadence und affektiver Überreizung - eine wichtige
Stabilisierungsfunktion. (Vgl. dazu Neymeyr 2008c, Bd. 2, 1165-1198 und
2009a, 65-92.)
351, 6-7 Kant hielt an der Universität fest, unterwarf sich den Regierungen] Im
8. Kapitel von UB III SE ergänzt N. diese Einschätzung durch das kritische Ur-
teil: „Aber schon Kant war, wie wir Gelehrte zu sein pflegen, rücksichtsvoll,
unterwürfig und, in seinem Verhalten gegen den Staat, ohne Grösse: so dass
er jedenfalls, wenn die Universitätsphilosophie einmal angeklagt werden soll-
te, sie nicht rechtfertigen könnte" (414, 15-19). Indem N. Kant eine devote Kom-
promissbereitschaft vorwirft, unterstellt er ihm implizit ein inkonsequentes
Verhalten, das den aufklärerischen Autonomie-Prinzipien seiner philosophi-
schen Lehre nicht entspreche. Vgl. dazu allerdings die Hintergrundinformatio-
nen in NK 414, 15-19, die N.s Behauptungen über Kants angeblichen Opportu-
nismus als eine durch unzureichende Kenntnis der Schriften Kants und seines
Verhaltens als Universitätsprofessor bedingte Fehleinschätzung erweisen.
N.s kritische Perspektive auf Kant in UB III SE unterscheidet sich übrigens
von dem Urteil Schopenhauers in seiner Schrift Ueber die Universitäts-Philoso-
phie. Denn während N. behauptet, Kant habe sich durch devotes Verhalten
gegenüber dem Staat als repräsentativer Vertreter der akademischen Philoso-
phie erwiesen, beschreibt Schopenhauer den Philosophieprofessor Kant als
eine singuläre Ausnahmeexistenz im Universitätsbetrieb: Es gehöre „zu den
seltensten Fällen, daß ein wirklicher Philosoph zugleich ein Docent der Philo-
sophie" sei; laut Schopenhauer stellt „gerade Kant diesen Ausnahmsfall" dar
(PP I, Hü 151-152). In diesem Zusammenhang verweist Schopenhauer selbst je-
doch zugleich auf einen aufschlussreichen Passus in der Welt als Wille und
Vorstellung II, der die Bedeutung des zeitgeschichtlichen Kontextes für Kants
Werk hervorhebt und durch eine kritische Bemerkung zur Person Kants wohl
auch N.s Perspektive auf Kant beeinflusste. Hier erklärt Schopenhauer: „Daß
jedoch Kant zugleich von und für die Philosophie leben konnte, beruhte auf
dem seltenen Umstande, daß, zum ersten Male wieder, [...] ein Philosoph auf
dem Throne saß: nur unter solchen Auspicien konnte die Kritik der reinen Ver-
nunft das Licht erblicken. Kaum war der König todt, so sehn wir auch schon
Kanten, weil er zur Gilde gehörte, von Furcht ergriffen, sein Meisterwerk in
der zweiten Ausgabe modificiren, kastriren und verderben, dennoch aber bald
in Gefahr kommen, seine Stelle zu verlieren" (WWV II, Kap. 17, Hü 179).
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften