92 Schopenhauer als Erzieher
In mehrfacher Hinsicht sind die Perspektiven Schopenhauers und N.s auf
Kants Philosophie durch Analogien und Differenzen bestimmt (vgl. Neymeyr
1995a, 225-248 und 1996a, 215-263). Dies gilt auch im Hinblick auf den Status
Kants als Universitätsphilosoph. So treten Affinitäten hervor, wenn Schopen-
hauer selbst seine Kant-Verehrung relativiert: In seiner Schrift Ueber die Univer-
sitäts-Philosophie merkt er kritisch an, „daß auch Kants Philosophie eine groß-
artigere, entschiedenere, reinere und schönere geworden seyn würde, wenn er
nicht jene Professur bekleidet hätte" (PP I, Hü 161-162). Und analog zu Scho-
penhauers Einschätzung betont N. in UB III SE ebenfalls das revolutionäre Po-
tential, das der Kantischen Lehre durch die Infragestellung des traditionellen
Wahrheitsbegriffs innewohne (355-356). - Gleichwohl erscheinen die Differen-
zen in den von Schopenhauer und N. formulierten Einschätzungen fundamen-
tal: Während Schopenhauer Kant mit seinen „Hauptschriften" zur „wichtigsten
Erscheinung" erklärt, „welche seit zwei Jahrtausenden in der Philosophie her-
vorgetreten ist", und deren „Wirkung" auf kongeniale Rezipienten „der Staar-
operation am Blinden gar sehr zu vergleichen" findet (WWV I, Hü XI),
behauptet N., dass Kants „Beispiel" von Überanpassung „vor allem Universi-
tätsprofessoren und Professorenphilosophie erzeugte" (351, 9-10). Vgl. im Kon-
trast dazu aber die Belegstellen in NK 414, 15-19, die N.s Opportunismus-Vor-
würfe gegen Kant widerlegen, indem sie ein von Zivilcourage zeugendes
Verhalten Kants gegenüber obrigkeitsstaatlichen Forderungen dokumentieren.
351, 10-13 Schopenhauer macht mit den gelehrten Kasten wenig Umstände, se-
parirt sich, erstrebt Unabhängigkeit von Staat und Gesellschaft - dies ist sein
Beispiel, sein Vorbild] Hier bezieht sich N. insbesondere auf die Schrift Ueber
die Universitäts-Philosophie, in der Schopenhauer dezidiert erklärt: „Das wirkli-
che Philosophiren verlangt Unabhängigkeit" (PP I, Hü 206). „Der Wahrheit ist
die Atmosphäre der Freiheit unentbehrlich" (PP I, Hü 161). Unter diesen Prä-
missen konstatiert er eine Depravation der zeitgenössischen Universitätsphilo-
sophie, die den Wahrheitsanspruch bloßen Staatsinteressen unterordnet. Von
sich selbst behauptet Schopenhauer: „Ich habe die Wahrheit gesucht und
nicht eine Professur" (PP I, Hü 151-152).
In seiner Kritik an der Universitätsphilosophie beleuchtet Schopenhauer
zum einen die fundamentale Problematik der akademischen „Professionsphilo-
sophen" generell (PP I, Hü 182), zum anderen polemisiert er konkret gegen eini-
ge zeitgenössische Repräsentanten, vor allem gegen die drei nachkantischen
Idealisten Fichte, Schelling und Hegel, daneben aber auch gegen Herbart und
Schleiermacher. In deutlicher Übereinstimmung mit Schopenhauers Schrift Ue-
ber die Universitäts-Philosophie wertet N. den Typus des akademischen Gelehrten
in UB III SE ebenfalls ab. (Belegstellen dazu finden sich in Kapitel III.4 des Über-
blickskommentars, das erstmals einen ausführlichen Vergleich dieser beiden
In mehrfacher Hinsicht sind die Perspektiven Schopenhauers und N.s auf
Kants Philosophie durch Analogien und Differenzen bestimmt (vgl. Neymeyr
1995a, 225-248 und 1996a, 215-263). Dies gilt auch im Hinblick auf den Status
Kants als Universitätsphilosoph. So treten Affinitäten hervor, wenn Schopen-
hauer selbst seine Kant-Verehrung relativiert: In seiner Schrift Ueber die Univer-
sitäts-Philosophie merkt er kritisch an, „daß auch Kants Philosophie eine groß-
artigere, entschiedenere, reinere und schönere geworden seyn würde, wenn er
nicht jene Professur bekleidet hätte" (PP I, Hü 161-162). Und analog zu Scho-
penhauers Einschätzung betont N. in UB III SE ebenfalls das revolutionäre Po-
tential, das der Kantischen Lehre durch die Infragestellung des traditionellen
Wahrheitsbegriffs innewohne (355-356). - Gleichwohl erscheinen die Differen-
zen in den von Schopenhauer und N. formulierten Einschätzungen fundamen-
tal: Während Schopenhauer Kant mit seinen „Hauptschriften" zur „wichtigsten
Erscheinung" erklärt, „welche seit zwei Jahrtausenden in der Philosophie her-
vorgetreten ist", und deren „Wirkung" auf kongeniale Rezipienten „der Staar-
operation am Blinden gar sehr zu vergleichen" findet (WWV I, Hü XI),
behauptet N., dass Kants „Beispiel" von Überanpassung „vor allem Universi-
tätsprofessoren und Professorenphilosophie erzeugte" (351, 9-10). Vgl. im Kon-
trast dazu aber die Belegstellen in NK 414, 15-19, die N.s Opportunismus-Vor-
würfe gegen Kant widerlegen, indem sie ein von Zivilcourage zeugendes
Verhalten Kants gegenüber obrigkeitsstaatlichen Forderungen dokumentieren.
351, 10-13 Schopenhauer macht mit den gelehrten Kasten wenig Umstände, se-
parirt sich, erstrebt Unabhängigkeit von Staat und Gesellschaft - dies ist sein
Beispiel, sein Vorbild] Hier bezieht sich N. insbesondere auf die Schrift Ueber
die Universitäts-Philosophie, in der Schopenhauer dezidiert erklärt: „Das wirkli-
che Philosophiren verlangt Unabhängigkeit" (PP I, Hü 206). „Der Wahrheit ist
die Atmosphäre der Freiheit unentbehrlich" (PP I, Hü 161). Unter diesen Prä-
missen konstatiert er eine Depravation der zeitgenössischen Universitätsphilo-
sophie, die den Wahrheitsanspruch bloßen Staatsinteressen unterordnet. Von
sich selbst behauptet Schopenhauer: „Ich habe die Wahrheit gesucht und
nicht eine Professur" (PP I, Hü 151-152).
In seiner Kritik an der Universitätsphilosophie beleuchtet Schopenhauer
zum einen die fundamentale Problematik der akademischen „Professionsphilo-
sophen" generell (PP I, Hü 182), zum anderen polemisiert er konkret gegen eini-
ge zeitgenössische Repräsentanten, vor allem gegen die drei nachkantischen
Idealisten Fichte, Schelling und Hegel, daneben aber auch gegen Herbart und
Schleiermacher. In deutlicher Übereinstimmung mit Schopenhauers Schrift Ue-
ber die Universitäts-Philosophie wertet N. den Typus des akademischen Gelehrten
in UB III SE ebenfalls ab. (Belegstellen dazu finden sich in Kapitel III.4 des Über-
blickskommentars, das erstmals einen ausführlichen Vergleich dieser beiden