Metadaten

Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0123
Lizenz: In Copyright
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
96 Schopenhauer als Erzieher

Bei der Abschrift der deutschen Übersetzung unterläuft N. im Hinblick auf
den geographischen Bezug ein Zitat-Fehler, auf den Jörg Salaquarda hinweist.
Bei Bagehot heißt es: „Ein Shelley würde in Neu-England [sic!] nicht haben
leben können". Vgl. dazu die Aussage in der englischen Originalausgabe: Ba-
gehots Physics and Politics, or Thoughts on the Application of the Principle of
,Natural Selection' and ,Inheritance' to Political Society: „societies tyranically
customary, uncongenial minds become first cowed, then melancholy, then out
of health, and at last die. A Shelley in New England could hardly have lived,
and a race of Shelley's would have been impossible" (The Collected Works of
Walter Bagehot, VIII vol.s, 1974 ff., Bd. VII, 100). Auch das einschränkende
„hardly" im englischen Text entfällt in der deutschsprachigen Version N.s. Vgl.
dazu Salaquarda 1979, 396-397. - Kritischer als im vorliegenden Kontext von
UB III SE äußert sich N. in einem nachgelassenen Notat von 1885 über Shelley.
Dort wendet er sich energisch „Gegen den falschen Idealismus, wo durch
übertriebene Feinheit sich die besten Naturen der Welt entfremden", um dann
fortzufahren: „Und daß solche Shelleys, Hölderlins, Leopardis zu Grunde
gehn, ist billig, ich halte gar nicht viel von solchen Menschen" (NL 1885, 34
[95], KSA 11, 451). Dieser despektierliche Gestus unterscheidet sich grundle-
gend von dem empathischen Ton, mit dem N. im vorliegenden Kontext von
UB III SE auf die Fragilität und melancholische Disposition von Ausnahmeexis-
tenzen wie „Shelley" oder „Hölderlin und Kleist" eingeht, die an „ihrer Unge-
wöhnlichkeit" zugrunde gingen (352, 10-13).
In diesem Zusammenhang greift N. auch auf den seit der Antike etablierten
Topos von der Melancholie des Genies zurück, der sich in der Kulturgeschichte
bis zum 19. Jahrhundert durch zahlreiche Aussagen belegen lässt, etwa von Aris-
toteles und Cicero sowie Goethe und Schopenhauer als prominenten Beispielen.
In der Welt als Wille und Vorstellung II rekurriert Schopenhauer auf diesen Tradi-
tionszusammenhang: „Schon Aristoteles hat, nach Cicero (Tusc., I, 33), be-
merkt, omnes ingeniosos melancholicos esse; welches sich, ohne Zweifel, auf
die Stelle in des Aristoteles Problemata, 30, 1, bezieht" (WWV II, Kap. 31,
Hü 438). Analoge Aussagen finden sich in Schopenhauers Aphorismen zur Le-
bensweisheit (PP I, Hü 346-347). Vgl. das Zitat in NK 354, 21. Anschließend zi-
tiert er ein Gedicht Goethes, das mit den Versen endet: „Darum behagt dem
Dichtergenie / Das Element der Melancholie" (WWV II, Kap. 31, Hü 438). Und
über die Rezeption seiner eigenen Philosophie schreibt Schopenhauer: „Man
hat geschrieen über das Melancholische und Trostlose meiner Philosophie"
(WWV II, Kap. 46, Hü 666). - Anders akzentuiert N. die Korrelation zwischen
Melancholie und Genialität, wenn er an späterer Stelle von UB III SE konsta-
tiert, der Mensch sei aufgrund seiner „Begrenztheit" von „Sehnsucht und Me-
lancholie erfüllt" und trage daher „ein tiefes Verlangen nach dem Genius in
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften