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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0127
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100 Schopenhauer als Erzieher

dumpfen, heimlichen Neid verspürt, den er aufs Sorgfältigste versteckt, indem
er ihn sogar sich selber zu verhehlen sucht [...]. Ein großes Leiden aller Philis-
ter ist, daß Idealitäten ihnen keine Unterhaltung gewähren, sondern sie,
um der Langenweile zu entgehn, stets der Realitäten bedürfen" (PP I,
Hü 366).
Diese charakteristische Verbindung von geistiger Mediokrität mit Phlegma,
Missgunst und Ressentiment, durch die Schopenhauer den Philister gekenn-
zeichnet sieht, weist zum einen auf N.s Definition des ,Bildungsphilisters' vo-
raus, in der eine bornierte Selbstzufriedenheit stärker akzentuiert ist als bei
Schopenhauer, zum anderen auf N.s spätere Konzepte des Herdenmenschen
und des Ressentiments. - Zum Gegensatz zwischen Genie und Philister vgl.
WWV II, Kap. 31, Hü 453. Weitere Belege zum ,Philister' bei Schopenhauer:
WWV II, Kap. 38, Hü 507; PP I, Hü 384; PP II, Kap. 1, § 21, Hü 20; PP II, Kap. 23,
§ 283, Hü 567. In seiner Schrift Ueber die Universitäts-Philosophie verwendet
Schopenhauer auch den pejorativen Begriff ,Philisterei' (PP I, Hü 158, 164) -
etwa wenn er die Gefahr betont, dass man „den philosophischen Hörsaal in
eine Schule der plattesten Philisterei umschafft" (PP I, Hü 164). Vgl. auch PP II,
Kap. 9, § 123, Hü 258 und WWV II, Kap. 12, Hü 136. Den „ekelhaften Hegeljar-
gon" macht Schopenhauer dafür verantwortlich, dass „die platteste, philister-
hafteste, ja niedrigste Gesinnung an die Stelle der edlen und hohen Gedanken"
tritt (PP I, Hü 177).
352, 34 - 353, 8 Nun hatte der arme Schopenhauer auch so eine geheime Schuld
auf dem Herzen, nämlich seine Philosophie mehr zu schätzen als seine Zeitgenos-
sen; und dazu war er so unglücklich, gerade durch Goethe zu wissen, dass er
seine Philosophie, um ihre Existenz zu retten, um jeden Preis gegen die Nichtbe-
achtung seiner Zeitgenossen vertheidigen müsse; denn es giebt eine Art Inquisiti-
onscensur, in der es die Deutschen nach Goethe's Urtheil weit gebracht haben;
es heisst: unverbrüchliches Schweigen.] Eigentlich bezeichnet der Begriff Inqui-
sition' Untersuchungsorgane bestimmter Institutionen (z. B. der katholischen
Kirche), welche die Einhaltung von Vorschriften überwachen und über Ab-
weichler Sanktionen verhängen. Besondere Bekanntheit erlangten die Inquisi-
tionsprozesse gegen religiöse ,Häretiker'. - Indem N. hier „unverbrüchliches
Schweigen" als „eine Art Inquisitionscensur" charakterisiert, zitiert er (wie
auch in 353, 17) aus Schopenhauers Schrift Ueber den Willen in der Natur: „Ach-
selträgerei und Augendienerei sind an der Tagesordnung, Tartüffiaden werden
ohne Schminke aufgeführt, ja Kapuzinaden ertönen von der den Wissenschaf-
ten geweihten Stätte: das ehrwürdige Wort Aufklärung ist eine Art Schimpfwort
geworden, die größten Männer des vorigen Jahrhunderts, Voltaire, Rousseau,
Locke, Hume, werden verunglimpft, diese Heroen, diese Zierden und Wohlthä-
ter der Menschheit [...]. Litterarische Faktionen und Brüderschaften auf Tadel
 
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