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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0128
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Stellenkommentar UB III SE 3, KSA 1, S. 352 101

und Lob werden geschlossen, und nun wird das Schlechte gepriesen und aus-
posaunt, das Gute verunglimpft, oder auch, wie Goethe sagt, ,durch ein
unverbrüchliches Schweigen sekretirt, in welcher Art von
Inquisitionscensur es die Deutschen weit gebracht haben'
(Tag- und Jahreshefte, J. 1821)" (Schriften zur Naturphilosophie und zur Ethik,
Hü 16-17). - Schopenhauer zitiert in dieser Passage nicht präzise aus autobio-
graphischen Aussagen in Goethes Tag- und Jahresheften von 1821. Hier äußert
sich Goethe folgendermaßen über das Buch Spanien und die Revolution eines
vielgereisten Autors: „Seine Art zu schauen und zu denken sagt dem Zeitgeist
nicht zu; daher sekretiert dieser das Buch durch ein unverbrüchliches Schwei-
gen, in welcher Art von Inquisitionszensur es die Deutschen weit gebracht ha-
ben" (Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner
Ausgabe, Bd. 14, 1986, 304).
Außerdem spielt N. hier auch auf andere Aussagen Schopenhauers an, die
sein Leiden an mangelnder öffentlicher Resonanz und an fehlender Anerken-
nung für sein Werk offenbaren. An späterer Stelle von UB III SE greift N. diese
Thematik nochmals auf (406, 9 - 407, 4). - In der Schrift Ueber die Universitäts-
Philosophie äußert sich Schopenhauer folgendermaßen über missgünstige Zeit-
genossen: „je mehr Verdienst seine Sache hat, desto mehr wird sie, nicht ihre
Bewunderung, sondern ihren Groll erregen; desto determinirteren passiven
Widerstand werden sie ihr entgegenstellen, also mit desto hämischerem Schwei-
gen sie zu ersticken suchen [...], damit nur die ihnen verhaßte Stimme der Ein-
sicht und Aufrichtigkeit nicht durchdringe" (PP I, Hü 202). Schopenhauer be-
trachtet sich selbst als ein Opfer dieser „Taktik des passiven Widerstandes" (PP I,
Hü 200): Denn „durch die gänzliche Nichtbeachtung meiner Werke haben sie an
den Tag zu legen vermeint, was ich sei (wiewohl sie gerade dadurch an den Tag
gelegt haben, was sie sind)" (PP I, Hü 200). Die Begriffe „Nichtbeachtung" und
„Schweigen" verwendet in diesem Kontext auch N. (353, 5, 8).
Ein solches Verhalten als probate Strategie zur „Unterdrückung" bedeuten-
der Leistungen wurde laut Schopenhauer schon vom „alten Seneka" [sic] di-
agnostiziert: Er spricht in seinen Epistulae morales vom „silentium, quodlivor
indixerit", also vom Schweigen, das der Neid auferlegt (PP I, Hü 160). Vgl. auch
PP I, Hü 152, 160, 171, 175, 196. Die Strategie philosophischer Konkurrenten, die
darauf zielt, die Wirksamkeit seines Werkes durch beharrliches Schweigen zu
boykottieren, bezeichnet Schopenhauer als ,Sekretieren' (PP I, Hü 196): Seiner
von der Norwegischen Societät der Wissenschaften am 26. Januar 1839 ge-
krönten Preisschrift Ueber die Freiheit des Willens begegnete man laut Scho-
penhauer „mit dem passiven Widerstande [...]: sie ist aufs strengste sekretirt"
und wird „comme non avenue angesehn" wie „alle meine Werke. Meine Phi-
losophie interessirt eben die Herren nicht: das kommt aber daher, daß die
 
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