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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0133
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106 Schopenhauer als Erzieher

Stimmung, periodische übermäßige Heiterkeit und vorwaltende Melancholie
herbeiführen. Weil nun auch das Genie durch ein Übermaß der Nervenkraft,
also der Sensibilität bedingt ist; so hat Aristoteles ganz richtig bemerkt, daß
alle ausgezeichnete und überlegene Menschen melancholisch seien" (PP I,
Hü 346-347). Im Anschluss an das griechische Zitat aus den pseudo-aristoteli-
schen Problemata (30, 1) fährt Schopenhauer fort (PP I, Hü 347): „Ohne Zweifel
ist dieses die Stelle, welche Cicero im Auge hatte, bei seinem oft angeführten
Bericht: Aristoteles ait, omnes ingeniosos melancholicos esse (Tusc. I, 33)."
Schopenhauer selbst schafft in der Welt als Wille und Vorstellung einen
konkreten autobiographischen Bezug, indem er die negative Reaktion der Zeit-
genossen auf seine pessimistische Weltanschauung so beschreibt: „Man hat
geschrieen über das Melancholische und Trostlose meiner Philosophie [...]"
(WWV II, Kap. 46, Hü 666). Auch wenn Schopenhauer dieses Negativetikett an-
schließend in Frage stellt, indem er gerade den Pessimismus seiner Philoso-
phie als realistisch, die Optimisten hingegen als naiv betrachtet, steht hier zu-
gleich doch auch die traditionelle Verbindung von Genialität und Melancholie
seit der Antike im Hintergrund (vgl. dazu NK 352, 6-12). Zur Thematik der Geni-
alität bei Schopenhauer vgl. NK 358, 29-33 und NK 386, 21-22.
354, 25-26 Sie kommen aus ihrer Höhle heraus] Vgl. NK 354, 1-3.
355, 8-10 Verzweiflung an der Wahrheit. Diese Gefahr begleitet jeden Denker,
welcher von der Kantischen Philosophie aus seinen Weg nimmt] Diese existenti-
elle Problematik exemplifiziert N. wenig später durch Kleist (355, 27 - 356, 11).
Vgl. dazu NK 355, 29 - 356, 8.
355, 17-19 Zwar soll [...] seit der That dieses stillen Gelehrten auf allen geistigen
Gebieten eine Revolution ausgebrochen sein; aber ich kann es nicht glauben.]
Hier spielt N. auf die ,Kopernikanische Wende' an, die Kant durch die von ihm
in der Kritik der reinen Vernunft entworfene Erkenntnistheorie eingeleitet hat.
Kant vertritt hier die Auffassung, dass sich die Gegenstände nach der Erkennt-
nis richten müssen (nicht umgekehrt). N.s Vorbehalt bezieht sich an dieser
Stelle nicht auf das revolutionäre Potential der Kantischen Lehre selbst, die
durch die Suspendierung des traditionellen Wahrheitsbegriffs Zeitgenossen
wie (vorgeblich) Heinrich von Kleist fundamental zu „erschüttern" vermochte
(355, 33), sondern lediglich auf deren Depravation in inferioren Köpfen: Die
„populäre Wirkung" der Kantischen Philosophie hält N. für problematisch,
wenn sie lediglich „in der Form eines zernagenden und zerbröckelnden Skepti-
cismus und Relativismus" (355, 22-24) Ausdruck findet oder gar zu einem
„müssigen Scepticismus" degeneriert (419, 24-25).
Gerade bei „den thätigsten und edelsten Geistern" (355, 25) bewertet N. die
nachhaltige Wirkung der Kant-Lektüre positiv: So habe Kleist eine existentielle
 
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