108 Schopenhauer als Erzieher
Dieses bekannte Dokument hat die sogenannte ,Kantkrise' Kleists zum Thema.
Einleitend erklärt Kleist, er habe den „beiden Zwecken, Wahrheit zu sammeln,
u Bildung mir zu erwerben, die kostbarsten Opfer" gebracht, da ihm diese Ziele
„so heilig" waren. Vor diesem Hintergrund betont er dann seine existentielle
Erschütterung durch die Einsicht in die fundamentalen erkenntnistheoreti-
schen Konsequenzen der Kantischen Transzendentalphilosophie: „Vor kurzem
ward ich mit der neueren sogenannten Kantischen Philosophie bekannt - u
Dir muß ich jetzt daraus einen Gedanken mittheilen, indem ich nicht fürchten
darf, daß er Dich so tief, so schmerzhaft erschüttern wird, als mich. Auch
kennst Du das Ganze nicht hinlänglich, um sein Interesse vollständig zu be-
greifen. [...] Wenn alle Menschen statt der Augen grüne Gläser hätten, so wür-
den sie urtheilen müssen, die Gegenstände, welche sie dadurch erblicken, sind
grün - und nie würden sie entscheiden können, ob ihr Auge ihnen die Dinge
zeigt, wie sie sind, oder ob es nicht etwas zu ihnen hinzuthut, was nicht ihnen,
sondern dem Auge gehört. So ist es mit dem Verstände. Wir können nicht ent-
scheiden, ob das, was wir Wahrheit nennen, wahrhaft Wahrheit ist, oder ob es
uns nur so scheint. Ist das letzte, so ist die Wahrheit, die wir hier sammeln,
nach dem Tode nicht mehr - u alles Bestreben, ein Eigenthum sich zu erwer-
ben, das uns auch in das Grab folgt, ist vergeblich - Ach, Wilhelmine, wenn
die Spitze dieses Gedankens Dein Herz nicht trifft, so lächle nicht über einen
Andern, der sich tief in seinem heiligsten Innern davon verwundet fühlt. Mein
einziges, mein höchstes Ziel ist gesunken, und ich habe nun keines mehr -
Seit diese Überzeugung, nämlich, daß hienieden keine Wahrheit zu finden ist,
vor meine Seele trat, habe ich nicht wieder ein Buch angerührt" (Kleist: Briefe,
1997, 205).
Einen Tag später, am 23. März 1801, schreibt Kleist in diesem Sinne auch
an seine Schwester Ulrike von Kleist: „Der Gedanke, daß wir hienieden von
der Wahrheit nichts, gar nichts, wissen, daß das, was wir hier Wahrheit nen-
nen, nach dem Tode ganz anders heißt, u daß folglich das Bestreben, sich ein
Eigenthum zu erwerben, das uns auch in das Grab folgt, ganz vergeblich u
fruchtlos ist, dieser Gedanke hat mich in dem Heiligthum meiner Seele erschüt-
tert - Mein einziges u höchstes Ziel ist gesunken, ich habe keines mehr. Seitdem
eckelt mich vor den Büchern, ich lege die Hände in den Schoß, und suche ein
neues Ziel, dem mein Geist, froh-beschäfftigt [sic], von Neuem entgegenschrei-
ten könnte. Aber ich finde es nicht" (ebd., 207-208). Allerdings leitet Kleist
diese Schilderung durch eine Bemerkung ein, die zugleich bereits eine gewisse
Distanz zu der von ihm als existentiell dargestellten Problematik signalisiert:
„Es scheint, als ob ich eines von den Opfern der Thorheit werden würde, deren
die Kantische Philosophie so viel auf das [sic] Gewissen hat" (ebd., 207).
In der Kleist-Forschung wurden unterschiedliche Positionen zur sogenann-
ten ,Kantkrise' Kleists im Frühjahr 1801 formuliert: Einerseits nahm man tat-
Dieses bekannte Dokument hat die sogenannte ,Kantkrise' Kleists zum Thema.
Einleitend erklärt Kleist, er habe den „beiden Zwecken, Wahrheit zu sammeln,
u Bildung mir zu erwerben, die kostbarsten Opfer" gebracht, da ihm diese Ziele
„so heilig" waren. Vor diesem Hintergrund betont er dann seine existentielle
Erschütterung durch die Einsicht in die fundamentalen erkenntnistheoreti-
schen Konsequenzen der Kantischen Transzendentalphilosophie: „Vor kurzem
ward ich mit der neueren sogenannten Kantischen Philosophie bekannt - u
Dir muß ich jetzt daraus einen Gedanken mittheilen, indem ich nicht fürchten
darf, daß er Dich so tief, so schmerzhaft erschüttern wird, als mich. Auch
kennst Du das Ganze nicht hinlänglich, um sein Interesse vollständig zu be-
greifen. [...] Wenn alle Menschen statt der Augen grüne Gläser hätten, so wür-
den sie urtheilen müssen, die Gegenstände, welche sie dadurch erblicken, sind
grün - und nie würden sie entscheiden können, ob ihr Auge ihnen die Dinge
zeigt, wie sie sind, oder ob es nicht etwas zu ihnen hinzuthut, was nicht ihnen,
sondern dem Auge gehört. So ist es mit dem Verstände. Wir können nicht ent-
scheiden, ob das, was wir Wahrheit nennen, wahrhaft Wahrheit ist, oder ob es
uns nur so scheint. Ist das letzte, so ist die Wahrheit, die wir hier sammeln,
nach dem Tode nicht mehr - u alles Bestreben, ein Eigenthum sich zu erwer-
ben, das uns auch in das Grab folgt, ist vergeblich - Ach, Wilhelmine, wenn
die Spitze dieses Gedankens Dein Herz nicht trifft, so lächle nicht über einen
Andern, der sich tief in seinem heiligsten Innern davon verwundet fühlt. Mein
einziges, mein höchstes Ziel ist gesunken, und ich habe nun keines mehr -
Seit diese Überzeugung, nämlich, daß hienieden keine Wahrheit zu finden ist,
vor meine Seele trat, habe ich nicht wieder ein Buch angerührt" (Kleist: Briefe,
1997, 205).
Einen Tag später, am 23. März 1801, schreibt Kleist in diesem Sinne auch
an seine Schwester Ulrike von Kleist: „Der Gedanke, daß wir hienieden von
der Wahrheit nichts, gar nichts, wissen, daß das, was wir hier Wahrheit nen-
nen, nach dem Tode ganz anders heißt, u daß folglich das Bestreben, sich ein
Eigenthum zu erwerben, das uns auch in das Grab folgt, ganz vergeblich u
fruchtlos ist, dieser Gedanke hat mich in dem Heiligthum meiner Seele erschüt-
tert - Mein einziges u höchstes Ziel ist gesunken, ich habe keines mehr. Seitdem
eckelt mich vor den Büchern, ich lege die Hände in den Schoß, und suche ein
neues Ziel, dem mein Geist, froh-beschäfftigt [sic], von Neuem entgegenschrei-
ten könnte. Aber ich finde es nicht" (ebd., 207-208). Allerdings leitet Kleist
diese Schilderung durch eine Bemerkung ein, die zugleich bereits eine gewisse
Distanz zu der von ihm als existentiell dargestellten Problematik signalisiert:
„Es scheint, als ob ich eines von den Opfern der Thorheit werden würde, deren
die Kantische Philosophie so viel auf das [sic] Gewissen hat" (ebd., 207).
In der Kleist-Forschung wurden unterschiedliche Positionen zur sogenann-
ten ,Kantkrise' Kleists im Frühjahr 1801 formuliert: Einerseits nahm man tat-