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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0148
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Stellenkommentar UB III SE 3, KSA 1, S. 359-360 121

sophie (Leukipp, Demokrit) stammende Konzept des Atomismus geht davon
aus, dass die Materie aus kleinsten Teilchen aufgebaut ist, die sich nicht mehr
weiter teilen lassen. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts wurde diese Auffassung
auch zu einer Hypothese für naturwissenschaftliche Experimente und fand in
die moderne Chemie Eingang. - Wenn N. hier vom „untheilbaren [...] Atom"
spricht, unterläuft ihm genaugenommen ein Pleonasmus, da das altgriechi-
sche Wort ,atomos' (aTopoq) die Bedeutung ,unteilbar' hat. Allerdings be-
schränkt sich seine Aussage im vorliegenden Kontext keineswegs auf eine blo-
ße Tautologie. Denn N. verbindet mit dem Begriff des Atoms in UB III SE den
sozialen Aspekt der Kommunikation und kodiert ihn dadurch anthropologisch
um. Die Gefahr der Individualität sieht er in einer Isolation, die alle kommuni-
kativen Bezüge aufhebt. Einige Seiten später konstatiert N. eine „atomistische"
Revolution, um anschließend nach den „kleinsten untheilbaren Grundstoffe[n]
der menschlichen Gesellschaft" zu fragen (368, 17-19).
360, 28-29 Denken wir uns das Auge des Philosophen auf dem Dasein ruhend:
er will dessen Werth neu festsetzen.] Hier deutet sich bereits N.s spätere philoso-
phische Programmatik an: Da er die Aufgabe des Philosophen grundsätzlich
in der Wertsetzung sieht, visiert er selbst eine revolutionäre „Umwertung aller
Werte" an. Diese Tendenz setzt seit dem Beginn der 1880er Jahre ein, prägt
sich schon in N.s Werken Morgenröthe und Die fröhliche Wissenschaft aus, ent-
faltet sich später in Also sprach Zarathustra, Jenseits von Gut und Böse und
Zur Genealogie der Moral weiter, um schließlich in Götzen-Dämmerung und Der
Antichrist einen besonders radikalen Ausdruck zu finden. Mit der Verwirkli-
chung seines Anspruchs auf Umwertung beginnt N. tendenziell allerdings be-
reits in der Geburt der Tragödie, auch wenn er den Begriff „Umwertung aller
Werte" erst in den 1880er Jahren auch selbst verwendet. Zum Spannungsfeld
von Perspektivismus und Dezisionismus im Zusammenhang mit der program-
matischen Intention N.s auf „Umwertung aller Werte" vgl. Jochen Schmidt
2012b, 11-29.
360, 29-31 Denn das ist die eigenthümliche Arbeit aller grossen Denker gewe-
sen, Gesetzgeber für Maass, Münze und Gewicht der Dinge zu sein.] Mit dieser
Formulierung spielt N. auf das „Buch der Weisheit" im Alten Testament an (11,
20): „Du aber hast alles nach Maß, Zahl und Gewicht geordnet." - N.s Bibel-
Allusion säkularisiert den Bezug zur göttlichen Instanz und damit zum traditio-
nellen Maß aller Dinge. An die Stelle der Gottheit rückt der Philosoph als sinn-
stiftende Ordnungsinstanz. Zum Anspielungshorizont der vorliegenden Text-
stelle gehört auch der von Platon überlieferte sogenannte Homo-mensura-Satz
des Sophisten Protagoras, der den Menschen als Maß aller Dinge betrachtet,
mithin die Abhängigkeit allen Wissens von ihm betont und damit spätere phi-
losophische Konzepte im Ansatz antizipiert.
 
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