122 Schopenhauer als Erzieher
361, 2-5 Wenn die Beschäftigung mit Geschichte vergangener oder fremder Völ-
ker werthvoll ist, so ist sie es am meisten für den Philosophen, der ein gerechtes
Urtheil über das gesammte Menschenloos abgeben will] Der hier skizzierte histo-
rische Ansatz weist auf N.s spätere, genealogisch ausgerichtete Philosophie
voraus und lässt zugleich eine gewisse Affinität zu einem Diktum erkennen,
das sich in Ciceros Schrift De oratore (II, 36) findet: „Die Geschichte (ist) Lehr-
meisterin des Lebens" („historia magistra vitae"). Dieser Auffassung folgt auch
Grillparzer in seiner Studie Zur Literargeschichte (vgl. Grillparzer: Sämmtliche
Werke, Bd. 9, 1872, 156-261), aus der N. in UB II HL wörtlich zitiert (vgl. NK 277,
5-9). Hier beschreibt Grillparzer den „Nutzen" der Geschichte folgenderma-
ßen: „so lange es keine Philosophie gibt, ist die Geschichte die Lehrerin des
Menschengeschlechtes. Freilich ist ihr Nutzen großentheils ein negativer. Sie
zeigt uns den Hochmuth, den Eigennutz, die Leidenschaften, die Irrthümer,
die von jeher an den Geschicken der Welt gerüttelt haben, und lehrt, sich davor
zu hüten; aber eben dadurch wird ihr Nutzen auch positiv, denn wenn man
erst alle falschen Wege bezeichnet hat, fände man wohl auch den rechten"
(Grillparzer: Sämmtliche Werke, Bd. 9, 1872, 156).
Die Grundtendenz von N.s Aussage steht allerdings der Auffassung Scho-
penhauers diametral gegenüber, der ein pejoratives Urteil über die Geschichte
formuliert und darüber hinaus auch einen möglichen Wissenschaftsstatus der
Geschichte negiert. Im Unterschied zu N., der historische Einsichten durchaus
als eine potentiell ergiebige Grundlage für Menschenkenntnis und philosophi-
sche Reflexion betrachtet, kontrastiert Schopenhauer wiederholt mit Nach-
druck Geschichte und Philosophie. In der Welt als Wille und Vorstellung II
entfaltet er in Kapitel 38 „Ueber Geschichte" eine radikale Geschichtskritik.
Nach Schopenhauers Auffassung wird „für die Erkenntniß des Wesens der
Menschheit mehr von der Dichtung, als von der Geschichte geleistet"
(WWV II, Kap. 38, Hü 501). Diese Einschätzung erinnert an die Poetik des Aris-
toteles, der die Dichtkunst für ,philosophischer' hält als die Geschichte. Da
die Geschichte laut Schopenhauer anstelle einer systematischen „Subordina-
tion" dauerhafter Einzelphänomene nur eine „Koordination" von Fakten bie-
tet, betrachtet er sie als bloße Ansammlung von Wissenselementen. (Vgl.
WWV I, § 14, Hü 75; WWV II, Kap. 38, Hü 502, 505; PP II, Hü 476.)
Den Gegensatz zwischen der über allen Wissenschaften stehenden Philoso-
phie, die „das allgemeinste und deshalb wichtigste Wissen" biete, und der Ge-
schichte, der sogar der „Grundcharakter der Wissenschaft" fehle, weil es „kein
System der Geschichte" gebe (WWV II, Kap. 38, Hü 502), begründet Schopen-
hauer damit, dass sich die Geschichte den individuellen, vielgestaltigen, aber
vergänglichen und niemals vollständig zu erfassenden Erscheinungen des
menschlichen Lebens widme. Während sie dabei (aus geschichtsphilosophi-
361, 2-5 Wenn die Beschäftigung mit Geschichte vergangener oder fremder Völ-
ker werthvoll ist, so ist sie es am meisten für den Philosophen, der ein gerechtes
Urtheil über das gesammte Menschenloos abgeben will] Der hier skizzierte histo-
rische Ansatz weist auf N.s spätere, genealogisch ausgerichtete Philosophie
voraus und lässt zugleich eine gewisse Affinität zu einem Diktum erkennen,
das sich in Ciceros Schrift De oratore (II, 36) findet: „Die Geschichte (ist) Lehr-
meisterin des Lebens" („historia magistra vitae"). Dieser Auffassung folgt auch
Grillparzer in seiner Studie Zur Literargeschichte (vgl. Grillparzer: Sämmtliche
Werke, Bd. 9, 1872, 156-261), aus der N. in UB II HL wörtlich zitiert (vgl. NK 277,
5-9). Hier beschreibt Grillparzer den „Nutzen" der Geschichte folgenderma-
ßen: „so lange es keine Philosophie gibt, ist die Geschichte die Lehrerin des
Menschengeschlechtes. Freilich ist ihr Nutzen großentheils ein negativer. Sie
zeigt uns den Hochmuth, den Eigennutz, die Leidenschaften, die Irrthümer,
die von jeher an den Geschicken der Welt gerüttelt haben, und lehrt, sich davor
zu hüten; aber eben dadurch wird ihr Nutzen auch positiv, denn wenn man
erst alle falschen Wege bezeichnet hat, fände man wohl auch den rechten"
(Grillparzer: Sämmtliche Werke, Bd. 9, 1872, 156).
Die Grundtendenz von N.s Aussage steht allerdings der Auffassung Scho-
penhauers diametral gegenüber, der ein pejoratives Urteil über die Geschichte
formuliert und darüber hinaus auch einen möglichen Wissenschaftsstatus der
Geschichte negiert. Im Unterschied zu N., der historische Einsichten durchaus
als eine potentiell ergiebige Grundlage für Menschenkenntnis und philosophi-
sche Reflexion betrachtet, kontrastiert Schopenhauer wiederholt mit Nach-
druck Geschichte und Philosophie. In der Welt als Wille und Vorstellung II
entfaltet er in Kapitel 38 „Ueber Geschichte" eine radikale Geschichtskritik.
Nach Schopenhauers Auffassung wird „für die Erkenntniß des Wesens der
Menschheit mehr von der Dichtung, als von der Geschichte geleistet"
(WWV II, Kap. 38, Hü 501). Diese Einschätzung erinnert an die Poetik des Aris-
toteles, der die Dichtkunst für ,philosophischer' hält als die Geschichte. Da
die Geschichte laut Schopenhauer anstelle einer systematischen „Subordina-
tion" dauerhafter Einzelphänomene nur eine „Koordination" von Fakten bie-
tet, betrachtet er sie als bloße Ansammlung von Wissenselementen. (Vgl.
WWV I, § 14, Hü 75; WWV II, Kap. 38, Hü 502, 505; PP II, Hü 476.)
Den Gegensatz zwischen der über allen Wissenschaften stehenden Philoso-
phie, die „das allgemeinste und deshalb wichtigste Wissen" biete, und der Ge-
schichte, der sogar der „Grundcharakter der Wissenschaft" fehle, weil es „kein
System der Geschichte" gebe (WWV II, Kap. 38, Hü 502), begründet Schopen-
hauer damit, dass sich die Geschichte den individuellen, vielgestaltigen, aber
vergänglichen und niemals vollständig zu erfassenden Erscheinungen des
menschlichen Lebens widme. Während sie dabei (aus geschichtsphilosophi-