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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0150
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Stellenkommentar UB III SE 3, KSA 1, S. 361 123

scher Perspektive) kaleidoskopartig stets dasselbe, wenn auch in unterschiedli-
chen Konfigurationen zeige und sich zudem auf bloße Empirie beschränke,
konzentriere sich die Philosophie auf die Ideen als das Wesentliche und Blei-
bende (WWV I, § 35, Hü 215, WWV II, Kap. 38, Hü 504-508, Kap. 17, Hü 202).
Insofern ist Schopenhauers Geschichtskritik letztlich durch seinen Platonismus
motiviert. - Auf die Hegelsche Geschichtsphilosophie anspielend, schreibt
Schopenhauer: „Bloß daß Manche die Geschichte zu einem Theil der Philoso-
phie, ja zu dieser selbst machen wollen, indem sie wähnen, sie könne die Stelle
derselben einnehmen, ist lächerlich und abgeschmackt" (PP II, Kap. 19, § 233,
Hü 474).
Über die kaleidoskopartige Heterogenität einer bloßen Ansammlung ge-
schichtlicher Fakten hinaus betont Schopenhauer noch ein weiteres gravieren-
des Defizit einer lediglich historischen Betrachtung: Er bringt es mit dem pole-
mischen Vergleich zum Ausdruck, „daß die Geschichtsmuse Klio mit der Lüge
so durch und durch inficirt ist, wie eine Gassenhure mit der Syphilis. Die neue-
re kritische Geschichtsforschung müht sich zwar ab, sie zu kuriren, bewältigt
aber mit ihren lokalen Mitteln bloß einzelne, hie und da ausbrechende Sympto-
me; wobei noch dazu manche Quacksalberei mit unter läuft, die das Uebel
verschlimmert" (PP II, Kap. 19, § 233, Hü 476).
361, 10-14 Deshalb muss der Philosoph seine Zeit in ihrem Unterschiede gegen
andre wohl abschätzen und, indem er für sich die Gegenwart überwindet, auch
in seinem Bilde, das er vom Leben giebt, die Gegenwart überwinden] Nach N.s
Überzeugung ist die ,unzeitgemäße' Betrachtung, die alle historischen Bedingt-
heiten relativiert, zwar eine „schwere, ja kaum lösbare Aufgabe", aber zugleich
die unabdingbare Voraussetzung für den objektivierenden Blick des Philoso-
phen. Das Postulat der Unzeitgemäßheit erhält im vorliegenden Kontext beson-
dere Bedeutung, weil N. es zur conditio sine qua non adäquater Erkenntnis
erklärt, der sich der Philosoph möglichst weitgehend annähern soll. In diesem
Sinne äußert sich N. auch noch in der Anfangspassage seiner Spätschrift Der
Fall Wagner: „Was verlangt ein Philosoph am ersten und letzten von sich? Seine
Zeit in sich zu überwinden, ,zeitlos' zu werden. Womit also hat er seinen här-
testen Strauss zu bestehn? Mit dem, worin gerade er das Kind seiner Zeit ist.
Wohlan! Ich bin so gut wie Wagner das Kind dieser Zeit, will sagen ein deca-
dent: nur dass ich das begriff, nur dass ich mich dagegen wehrte. Der Philo-
soph in mir wehrte sich dagegen" (KSA 6, 11, 14-20).
Schopenhauer schließt seine Preisschrift über die Grundlage der Moral mit
einer Überlegung ab, die ebenfalls der Unzeitgemäßheit philosophischer Er-
kenntnis gilt: „Indem man sucht, menschliche Erkenntniß und Einsicht zu för-
dern, wird man stets den Widerstand des Zeitalters empfinden, gleich dem ei-
ner Last, die man zu ziehn hätte, und die schwer auf den Boden drückt, aller
 
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