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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0156
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Stellenkommentar UB III SE 4, KSA 1, S. 363-364 129

pythagoreische Gebot (KSA 1, 434, 8) „Schweigen und Reinsein!" (KSA 1, 434,
12). Im Handexemplar ist der Name Empedokles mit einem Fragezeichen verse-
hen, das möglicherweise von N. selbst stammt (KSA 14, 77).

4.
364, 7-11 Es wäre also möglich, dass einem späteren Jahrhundert vielleicht ge-
rade unser Zeitalter als saeculum obscurum gälte; weil man mit seinen Producten
am eifrigsten und längsten die Öfen geheizt hätte.] Hier nimmt N. hypothetisch
eine kulturkritische Metaperspektive ein: durch die Abwertung seiner eigenen
Epoche, die er hier im Conjunctivus potentialis als ein ,dunkles Zeitalter' er-
scheinen lässt - ähnlich wie (nach gängiger Auffassung) das ,finstere' Mittelal-
ter. In den Kontext seiner ,unzeitgemäßen' Kulturkritik integriert N. auch die
Vorstellung eines Autodafes (364, 1-7), die dem „saeculum obscurum" noch
einen zusätzlichen Bedeutungsakzent gibt. Denn dieses dunkle Zeitalter könn-
te zugleich als das unbekannte erscheinen, nachdem spätere Epochen dessen
Kulturprodukte verworfen und verbrannt hätten. Mit einer solchen zeitkritisch
akzentuierten Dunkelheitsmetaphorik korrespondiert auch ein nachgelassenes
Notat aus dem Entstehungskontext von UB I DS, das den Titel trägt „Gegen den
Schriftsteller David Strauss". Dort erklärt N. 1873 unter Rekurs auf Lichtenberg:
„Wenn die ,Wir' von Strauß wirklich so zahlreich" sind, dann „trifft ein, was
Lichtenberg prophezeit, daß unsre Zeiten noch einmal die dunklen heißen"
(NL 1873, 27 [5], KSA 7, 589).
Im vorliegenden Kontext greift N. einerseits auf diese Prognose Lichten-
bergs zurück, andererseits auf Thesen Schopenhauers zum Verhältnis zwi-
schen Mitwelt und Nachwelt. In seiner Schrift Ueber die Universitäts-Philoso-
phie, auf die N. in UB III SE sowohl explizit als auch implizit Bezug nimmt
(vgl. dazu den Vergleich in Kapitel III.4 des Überblickskommentars), entfaltet
Schopenhauer eine analoge hypothetische Retrospektive von der Zukunft auf
die Gegenwart: Hier reflektiert er über das „Tribunal der Nachwelt, welches [...]
auch eine Schandglocke führt, die sogar über ganze Zeitalter geläutet werden
kann" (PP I, Hü 155). Und die zukünftigen Konsequenzen eines „Verrates an
der Philosophie" sieht er in der „Verachtung der Nation bei den Nachbarn, und
des Zeitalters bei der Nachwelt" (PP I, Hü 188). - Wie weitgehend sich N. in
UB III SE an Schopenhauer orientiert, erhellt auch daraus, dass er von ihm
sogar die Vorstellung eines ,Tribunals' übernimmt, das er einer (außerhalb der
Universität tätigen) Philosophie als singuläre Metafunktion aus der Überschau
„einer gewissen würdevollen Weite" zuspricht (425, 19-20): In einer Zeit, in der
„der Universitätsgeist anfängt, sich mit dem Zeitgeiste zu verwechseln",
 
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