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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0219
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192 Schopenhauer als Erzieher

wendigkeit des so ängstlich bewachten Europäischen Gleichgewichts das Be-
kenntniß, daß der Mensch ein Raubthier ist, welches, sobald es einen Schwä-
cheren neben sich erspäht hat, unfehlbar über ihn herfällt? und erhalten wir
nicht täglich die Bestätigung desselben im Kleinen? - Zum gränzenlosen Egois-
mus unserer Natur gesellt sich aber noch ein, mehr oder weniger in jeder Men-
schenbrust vorhandener Vorrath von Haß, Zorn, Neid, Geifer und Bosheit"
(PP II, Kap. 8, § 114, Hü 27).
379, 32-34 Wir fürchten uns, wenn wir allein und stille sind [...] und betäuben
uns durch Geselligkeit.] N. führt hier die Thematik der Selbstentfremdung des
Menschen durch eine „Flucht vor sich selbst" weiter, die sich in vielfältigen
Verhaltensweisen zeige (379, 7-18). - Bereits Schopenhauer kritisiert die Flucht
des Menschen, der die existentielle Herausforderung durch die Einsamkeit
fürchtet, in gesellige Aktivitäten, die ihm willkommene Betäubung bieten. Da-
bei ist ein Zusammenhang mit der Problematik der Langeweile zu erkennen,
die in der Philosophie Schopenhauers von zentraler Bedeutung ist. Er vertritt
die Auffassung, „daß sobald Noth und Leiden dem Menschen eine Rast vergön-
nen, die Langeweile gleich so nahe ist, daß er des Zeitvertreibes nothwendig
bedarf" (WWV I, § 57, Hü 369). Im Zustand der „Langeweile" werde dem Men-
schen „sein Daseyn selbst [...] zur unerträglichen Last" (WWV I, § 57, Hü 368).
Analog: WWV I, § 57, Hü 371. Deshalb avanciert die „Langeweile", die kein „ge-
ring zu achtendes Uebel" ist, nach Schopenhauers Ansicht zur „Quelle der Ge-
selligkeit": „Sie macht, daß Wesen, welche einander so wenig lieben, wie die
Menschen, doch so sehr einander suchen" (WWV I, § 57, Hü 369). Vgl. auch
NK 373, 32-34 und NK 397, 24 sowie NK 389, 29-30.
Die Relation zwischen Einsamkeitsbedürfnis und Geselligkeitstrieb reflek-
tiert Schopenhauer wiederholt in den Aphorismen zur Lebensweisheit: „Was [...]
die Menschen gesellig macht ist ihre Unfähigkeit, die Einsamkeit, und in dieser
sich selbst, zu ertragen. Innere Leere und Ueberdruß sind es, von denen sie
sowohl in die Gesellschaft, wie in die Fremde und auf Reisen getrieben werden.
Ihrem Geiste mangelt es an Federkraft, sich eigene Bewegung zu ertheilen"
(PP I, Hü 450). „Die Leere ihres Innern, das Fade ihres Bewußtseyns, die Ar-
muth ihres Geistes treibt sie zur Gesellschaft" (PP I, Hü 341-342). Aber „je mehr
Einer an sich selber hat, desto weniger bedarf er von außen und desto weniger
auch können die Uebrigen ihm seyn. Darum führt die Eminenz des Geistes zur
Ungeselligkeit" (PP I, Hü 351). Vgl. auch NK 397, 24.
380, 3-4 den ganzen traumartigen Zustand unseres Lebens, dem vor dem Erwa-
chen zu grauen scheint] Die Vorstellung vom Leben als Traum ist ein alter Topos
in der Literatur, der bis in die Antike zurückreicht. Pindar bezeichnet das Le-
ben sogar lediglich als den ,Schatten eines Traumes'. Calderon verfasste ein
 
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