Stellenkommentar UB III SE 5, KSA 1, S. 380 195
zur wahren Heiligkeit und zur Erlösung von der Welt führt" (WWV I, § 53,
Hü 323).
Spezifische Differenzen stellt Schopenhauer dabei hinsichtlich der Reich-
weite und Konstanz solcher Erkenntnis fest: Dem Künstler wird die „reine,
wahre und tiefe Erkenntniß des Wesens der Welt [...] Zweck an sich: er bleibt
bei ihr stehn"; anders als „bei dem zur Resignation gelangten Heiligen" wird
sie ihm nicht „Quietiv des Willens, erlöst ihn nicht auf immer, sondern nur auf
Augenblicke vom Leben, und ist ihm so noch nicht der Weg aus demselben,
sondern nur einstweilen ein Trost in demselben" (WWV I, § 2, Hü 316). Laut
Schopenhauer überbrückt „allein die Philosophie" die „weite Kluft" zwischen
„der intuitiven und der abstrakten Erkenntniß": „Intuitiv nämlich, oder in con-
creto, ist sich eigentlich jeder Mensch aller philosophischen Wahrheiten be-
wußt: sie aber in sein abstraktes Wissen, in die Reflexion zu bringen, ist das
Geschäft des Philosophen" (WWV I, § 68, Hü 452). Für seine eigene Philosophie
erhebt Schopenhauer einen Prioritätsanspruch: „Vielleicht ist also hier zum
ersten Male, abstrakt und rein von allem Mythischen, das innere Wesen der
Heiligkeit, Selbstverleugnung, Ertödtung des Eigenwillens, Askesis, ausgespro-
chen als Verneinung des Willens zum Leben, eintretend, nachdem
ihm die vollendete Erkenntniß seines eigenen Wesens zum Quietiv alles Wol-
lens geworden" (WWV I, § 68, Hü 452-453). Vgl. auch NK 382, 4-9.
380, 18 die Natur, die nie springt] Paraphrase der lateinischen Sentenz „natura
non facit saltus" (die Natur macht keine Sprünge), die eine kontinuierliche
Entwicklung in der Natur statuiert. Schopenhauer beruft sich in seinen Werken
wiederholt, auch mit wörtlicher Zitation, auf dieses Prinzip, das er in der Welt
als Wille und Vorstellung II und in den Parerga und Paralipomena II mit unter-
schiedlichen Akzentsetzungen folgendermaßen erläutert: „Natura non facit
saltus: so lautet das Gesetz der Kontinuität aller Veränderungen, vermöge
dessen, in der Natur, kein Uebergang, sei er im Raum, oder in der Zeit, oder
im Grade irgend einer Eigenschaft, ganz abrupt eintritt" (PP II, Kap. 7, § 106,
Hü 204). Es besagt, „daß die Natur nicht bei jedem Erzeugnisse von vorne an-
fängt und aus nichts schafft, sondern, gleichsam im selben Stile fortschrei-
bend, an das Vorhandene anknüpft, die früheren Gestaltungen benutzt, entwi-
ckelt und höher potenzirt, ihr Werk weiter zu führen; wie sie es eben so in der
Steigerung der Thierreihe gehalten hat, ganz nach der Regel: natura non facit
saltus, et quod commodissimum in omnibus suis operationibus sequitur (Arist.
de incessu animalium, c. 2 et 8)" (WWV II, Kap. 26, Hü 380).
An anderer Stelle spezifiziert Schopenhauer diese „Vorschrift des Aristote-
les" (WWV II, Kap. 44, Hü 647) so: „Inzwischen ist das Gesetz Natura non facit
saltus auch in Hinsicht auf den Intellekt der Thiere nicht ganz aufgehoben;
wenn gleich der Schritt vom thierischen zum menschlichen Intellekt wohl der
zur wahren Heiligkeit und zur Erlösung von der Welt führt" (WWV I, § 53,
Hü 323).
Spezifische Differenzen stellt Schopenhauer dabei hinsichtlich der Reich-
weite und Konstanz solcher Erkenntnis fest: Dem Künstler wird die „reine,
wahre und tiefe Erkenntniß des Wesens der Welt [...] Zweck an sich: er bleibt
bei ihr stehn"; anders als „bei dem zur Resignation gelangten Heiligen" wird
sie ihm nicht „Quietiv des Willens, erlöst ihn nicht auf immer, sondern nur auf
Augenblicke vom Leben, und ist ihm so noch nicht der Weg aus demselben,
sondern nur einstweilen ein Trost in demselben" (WWV I, § 2, Hü 316). Laut
Schopenhauer überbrückt „allein die Philosophie" die „weite Kluft" zwischen
„der intuitiven und der abstrakten Erkenntniß": „Intuitiv nämlich, oder in con-
creto, ist sich eigentlich jeder Mensch aller philosophischen Wahrheiten be-
wußt: sie aber in sein abstraktes Wissen, in die Reflexion zu bringen, ist das
Geschäft des Philosophen" (WWV I, § 68, Hü 452). Für seine eigene Philosophie
erhebt Schopenhauer einen Prioritätsanspruch: „Vielleicht ist also hier zum
ersten Male, abstrakt und rein von allem Mythischen, das innere Wesen der
Heiligkeit, Selbstverleugnung, Ertödtung des Eigenwillens, Askesis, ausgespro-
chen als Verneinung des Willens zum Leben, eintretend, nachdem
ihm die vollendete Erkenntniß seines eigenen Wesens zum Quietiv alles Wol-
lens geworden" (WWV I, § 68, Hü 452-453). Vgl. auch NK 382, 4-9.
380, 18 die Natur, die nie springt] Paraphrase der lateinischen Sentenz „natura
non facit saltus" (die Natur macht keine Sprünge), die eine kontinuierliche
Entwicklung in der Natur statuiert. Schopenhauer beruft sich in seinen Werken
wiederholt, auch mit wörtlicher Zitation, auf dieses Prinzip, das er in der Welt
als Wille und Vorstellung II und in den Parerga und Paralipomena II mit unter-
schiedlichen Akzentsetzungen folgendermaßen erläutert: „Natura non facit
saltus: so lautet das Gesetz der Kontinuität aller Veränderungen, vermöge
dessen, in der Natur, kein Uebergang, sei er im Raum, oder in der Zeit, oder
im Grade irgend einer Eigenschaft, ganz abrupt eintritt" (PP II, Kap. 7, § 106,
Hü 204). Es besagt, „daß die Natur nicht bei jedem Erzeugnisse von vorne an-
fängt und aus nichts schafft, sondern, gleichsam im selben Stile fortschrei-
bend, an das Vorhandene anknüpft, die früheren Gestaltungen benutzt, entwi-
ckelt und höher potenzirt, ihr Werk weiter zu führen; wie sie es eben so in der
Steigerung der Thierreihe gehalten hat, ganz nach der Regel: natura non facit
saltus, et quod commodissimum in omnibus suis operationibus sequitur (Arist.
de incessu animalium, c. 2 et 8)" (WWV II, Kap. 26, Hü 380).
An anderer Stelle spezifiziert Schopenhauer diese „Vorschrift des Aristote-
les" (WWV II, Kap. 44, Hü 647) so: „Inzwischen ist das Gesetz Natura non facit
saltus auch in Hinsicht auf den Intellekt der Thiere nicht ganz aufgehoben;
wenn gleich der Schritt vom thierischen zum menschlichen Intellekt wohl der