202 Schopenhauer als Erzieher
theorie keineswegs etwas Unerhörtes ist", sondern „der leidenschaftlichste
Ausdruck für das Sichemporstrecken der Menschheit, für den Fanatismus der
Entwicklungshöhe, der gegen die Bedeutung der Breite, in der die Entwicklung
stattfindet, völlig blind macht" (Simmel 1907, 2. Aufl. 1920, 227). Insofern kann
ein elitärer Individualismus auch als Stimulans kulturellen Fortschritts er-
scheinen. In der Divergenz von mediokrer Masse und Geistesheros bei N. sieht
Simmel ein radikales Gegenmodell „zum Sozialismus" (ebd., 220). Er führt es
auf eine „Steigerung des psychologischen Unterschiedsbedürfnisses" zurück
(ebd., 218): Simmel sieht in der „Nietzschesche[n] Pointierung der einzelnen
Höhenerscheinungen der Menschheit" den „Ausdruck der Abstumpfung eines
in der Richtung der modernen Individualisierung verwöhnten Empfindens, das
zu immer gewalttätigeren Unterschiedsreizen greifen muß" (ebd., 220). Er
selbst erblickt das „wirkliche Ich" jedoch „nicht in dem Außerordentlichen",
sondern im „Dauernden" und Gewohnt-Verlässlichen; darin sieht er „die tiefste
philosophische Wendung der demokratischen Tendenz" (ebd., 221), während
N. das Niveau des „Typus Mensch" nach der „jeweils höchste[n] Spitze" be-
stimme (ebd., 223) und den „Höhepunkt menschlicher Qualitäten" dabei als
„Selbstzweck" betrachte (ebd., 223).
An N.s programmatische Feststellung, „die Menschheit soll fortwährend
daran arbeiten, einzelne grosse Menschen zu erzeugen" (383, 32 - 384, 1), weil
„das Ziel der Menschheit [...] nur in ihren höchsten Exemplaren" liegen könne
(KSA 1, 317, 24-26), schließt Max Scheler im Zeitraum von ca. 1912 bis 1927 in
seinen nachgelassenen Aufzeichnungen an. Dieses anthropologische Telos,
das N. bereits in UB II HL und UB III SE als „Aufgabe" der Menschheit bzw. der
Geschichte definiert (KSA 1, 317, 22; 384, 2), setzt sich in Schelers anthropologi-
schen Konzepten fort, deren geistesaristokratische Ausrichtung auch der mehr-
fach von ihm verwendete Begriff ,Elite' zu erkennen gibt. Belege für diese Grund-
tendenz und für ihre Prägung durch N. finden sich im sogenannten „Nietzsche-
Heft" (Signatur der Bayerischen Staatsbibliothek München: Ana 315, B.I.21),
einer nachgelassenen, bislang noch nicht vollständig publizierten Kladde, sowie
in weiteren nachgelassenen Aufzeichnungen, die Scheler in seinen letzten
anderthalb Lebensjahrzehnten anlegte. [Vgl. die detaillierteren Angaben dazu
und auch zur Zitation im Scheler-Abschnitt des Kapitels II.8 im Überblicks-
kommentar zu UB II HL: vgl. NK 1/2, 335-336.] Schon im Nachlass-Dokument
„B.III.35: Ordnungsmappe zur Biologie und Psychologie, 1 (undatiert, ca. 1912)"
findet sich die implizit an N. anschließende Aussage Schelers, dass „der Wert
der Menschheit in ihren ,höchsten Exemplaren' beruhe" (B.III.35). Im Nachlass-
Dokument „B.I.22: Evolution, Einheit des Lebens, 32-33 (1927)" entfaltet Scheler
diese Vorstellung so, dass der individualistische Geistesaristokratismus dabei
mit Gattungsinteressen vermittelt wird: „Die Menschheit kann nicht direkt;
theorie keineswegs etwas Unerhörtes ist", sondern „der leidenschaftlichste
Ausdruck für das Sichemporstrecken der Menschheit, für den Fanatismus der
Entwicklungshöhe, der gegen die Bedeutung der Breite, in der die Entwicklung
stattfindet, völlig blind macht" (Simmel 1907, 2. Aufl. 1920, 227). Insofern kann
ein elitärer Individualismus auch als Stimulans kulturellen Fortschritts er-
scheinen. In der Divergenz von mediokrer Masse und Geistesheros bei N. sieht
Simmel ein radikales Gegenmodell „zum Sozialismus" (ebd., 220). Er führt es
auf eine „Steigerung des psychologischen Unterschiedsbedürfnisses" zurück
(ebd., 218): Simmel sieht in der „Nietzschesche[n] Pointierung der einzelnen
Höhenerscheinungen der Menschheit" den „Ausdruck der Abstumpfung eines
in der Richtung der modernen Individualisierung verwöhnten Empfindens, das
zu immer gewalttätigeren Unterschiedsreizen greifen muß" (ebd., 220). Er
selbst erblickt das „wirkliche Ich" jedoch „nicht in dem Außerordentlichen",
sondern im „Dauernden" und Gewohnt-Verlässlichen; darin sieht er „die tiefste
philosophische Wendung der demokratischen Tendenz" (ebd., 221), während
N. das Niveau des „Typus Mensch" nach der „jeweils höchste[n] Spitze" be-
stimme (ebd., 223) und den „Höhepunkt menschlicher Qualitäten" dabei als
„Selbstzweck" betrachte (ebd., 223).
An N.s programmatische Feststellung, „die Menschheit soll fortwährend
daran arbeiten, einzelne grosse Menschen zu erzeugen" (383, 32 - 384, 1), weil
„das Ziel der Menschheit [...] nur in ihren höchsten Exemplaren" liegen könne
(KSA 1, 317, 24-26), schließt Max Scheler im Zeitraum von ca. 1912 bis 1927 in
seinen nachgelassenen Aufzeichnungen an. Dieses anthropologische Telos,
das N. bereits in UB II HL und UB III SE als „Aufgabe" der Menschheit bzw. der
Geschichte definiert (KSA 1, 317, 22; 384, 2), setzt sich in Schelers anthropologi-
schen Konzepten fort, deren geistesaristokratische Ausrichtung auch der mehr-
fach von ihm verwendete Begriff ,Elite' zu erkennen gibt. Belege für diese Grund-
tendenz und für ihre Prägung durch N. finden sich im sogenannten „Nietzsche-
Heft" (Signatur der Bayerischen Staatsbibliothek München: Ana 315, B.I.21),
einer nachgelassenen, bislang noch nicht vollständig publizierten Kladde, sowie
in weiteren nachgelassenen Aufzeichnungen, die Scheler in seinen letzten
anderthalb Lebensjahrzehnten anlegte. [Vgl. die detaillierteren Angaben dazu
und auch zur Zitation im Scheler-Abschnitt des Kapitels II.8 im Überblicks-
kommentar zu UB II HL: vgl. NK 1/2, 335-336.] Schon im Nachlass-Dokument
„B.III.35: Ordnungsmappe zur Biologie und Psychologie, 1 (undatiert, ca. 1912)"
findet sich die implizit an N. anschließende Aussage Schelers, dass „der Wert
der Menschheit in ihren ,höchsten Exemplaren' beruhe" (B.III.35). Im Nachlass-
Dokument „B.I.22: Evolution, Einheit des Lebens, 32-33 (1927)" entfaltet Scheler
diese Vorstellung so, dass der individualistische Geistesaristokratismus dabei
mit Gattungsinteressen vermittelt wird: „Die Menschheit kann nicht direkt;