206 Schopenhauer als Erzieher
etwas noch so nennen darf, liegt in der Arbeit für die Erzeugung des Genius;
Erziehung ist alles zu Hoffende, alles Tröstende heisst Kunst. Erziehung ist
Liebe zum Erzeugten, ein Überschuss von Liebe über die Selbstliebe
hinaus. Religion ist ,Lieben über uns hinaus'. Das Kunstwerk ist
das Abbild einer solchen Liebe über sich hinaus und ein
vol[l]kommnes" (NL 1875, 5 [22], KSA 8, 46). Vor dem Hintergrund kul-
turgeschichtlicher Säkularisierungsprozesse ist ein nachgelassenes Notat aus
demselben Jahr aufschlussreich, in dem N. „die Kunst" als „eine höhere Stufe der
Religion" bezeichnet, die „am Aussterben der Religionen" erscheine (NL 1875, 11
[20], KSA 8,206). Zu Aspekten einer Kunstreligion vgl. NK 434, 10-12 und NK 463,
31 - 464, 1. Vgl. auch NK 281, 28-30.
Im Unterschied zu N. verwendet Schopenhauer den Geniebegriff meistens
nicht ausdrücklich in einem weiten kulturellen Kontext, sondern beschreibt
neben der Philosophie vor allem „die Kunst" als „das Werk des Genius", und
zwar als „bildende Kunst, Poesie oder Musik": Das geniale Kunstwerk „wieder-
holt die durch reine Kontemplation aufgefaßten ewigen Ideen, das Wesentliche
und Bleibende aller Erscheinungen der Welt" (WWV I, § 36, Hü 217). Da „die
(Platonischen) Ideen [...] nur anschaulich aufgefaßt werden; so muß das
Wesen des Genies in der Vollkommenheit und Energie der anschauenden
Erkenntniß liegen" (WWV II, Kap. 31, Hü 430). Eine solche Einstellung gelingt
laut Schopenhauer nur „dem ächten Genius" oder dem vorübergehend „bis zur
Genialität Begeisterten" (WWV I, § 49, Hü 277). Zu quantitativen und qualitati-
ven Differenzierungen Schopenhauers im Zusammenhang mit der „geniale[n]
Besonnenheit" (WWV II, Kap. 31, Hü 442) vgl. ausführlich NK 377, 30-32.
Im Kapitel 31 „Vom Genie" formuliert Schopenhauer in der Welt als Wille
und Vorstellung II die folgende Definition: „Die überwiegende Fähigkeit zu der
[...] Erkenntnißweise, aus welcher alle ächten Werke der Künste, der Poesie
und selbst der Philosophie entspringen, ist es eigentlich, die man mit dem
Namen des Genies bezeichnet" (WWV II, Kap. 31, Hü 429-430). Laut Schopen-
hauer besteht das Genie „in einem abnormen Uebermaaß des Intellekts, wel-
ches seine Benutzung nur dadurch finden kann, daß es auf das Allgemeine
des Daseyns verwendet wird; wodurch es alsdann dem Dienste des ganzen
Menschengeschlechts obliegt" (WWV II, Kap. 31, Hü 431). Zu den Ambivalen-
zen in den Genie-Konzeptionen von Schopenhauer und N. vgl. Neymeyr 1996a,
265-286 (zur systematischen Problematik von Schopenhauers Konzept einer
genialen ,Abnormität' vgl. ebd., 67-85). - In den Parerga und Paralipomena II
betont Schopenhauer: „Das Genie [...] strahlt eigenes Licht aus, während die
andern nur das empfangene reflektiren" (PP II, Kap. 3, § 56, Hü 81). Und wenig
später heißt es hier über das Genie: „Sein Werk, als ein heiliges Depositum
und die wahre Frucht seines Daseyns, zum Eigenthum der Menschheit zu ma-
etwas noch so nennen darf, liegt in der Arbeit für die Erzeugung des Genius;
Erziehung ist alles zu Hoffende, alles Tröstende heisst Kunst. Erziehung ist
Liebe zum Erzeugten, ein Überschuss von Liebe über die Selbstliebe
hinaus. Religion ist ,Lieben über uns hinaus'. Das Kunstwerk ist
das Abbild einer solchen Liebe über sich hinaus und ein
vol[l]kommnes" (NL 1875, 5 [22], KSA 8, 46). Vor dem Hintergrund kul-
turgeschichtlicher Säkularisierungsprozesse ist ein nachgelassenes Notat aus
demselben Jahr aufschlussreich, in dem N. „die Kunst" als „eine höhere Stufe der
Religion" bezeichnet, die „am Aussterben der Religionen" erscheine (NL 1875, 11
[20], KSA 8,206). Zu Aspekten einer Kunstreligion vgl. NK 434, 10-12 und NK 463,
31 - 464, 1. Vgl. auch NK 281, 28-30.
Im Unterschied zu N. verwendet Schopenhauer den Geniebegriff meistens
nicht ausdrücklich in einem weiten kulturellen Kontext, sondern beschreibt
neben der Philosophie vor allem „die Kunst" als „das Werk des Genius", und
zwar als „bildende Kunst, Poesie oder Musik": Das geniale Kunstwerk „wieder-
holt die durch reine Kontemplation aufgefaßten ewigen Ideen, das Wesentliche
und Bleibende aller Erscheinungen der Welt" (WWV I, § 36, Hü 217). Da „die
(Platonischen) Ideen [...] nur anschaulich aufgefaßt werden; so muß das
Wesen des Genies in der Vollkommenheit und Energie der anschauenden
Erkenntniß liegen" (WWV II, Kap. 31, Hü 430). Eine solche Einstellung gelingt
laut Schopenhauer nur „dem ächten Genius" oder dem vorübergehend „bis zur
Genialität Begeisterten" (WWV I, § 49, Hü 277). Zu quantitativen und qualitati-
ven Differenzierungen Schopenhauers im Zusammenhang mit der „geniale[n]
Besonnenheit" (WWV II, Kap. 31, Hü 442) vgl. ausführlich NK 377, 30-32.
Im Kapitel 31 „Vom Genie" formuliert Schopenhauer in der Welt als Wille
und Vorstellung II die folgende Definition: „Die überwiegende Fähigkeit zu der
[...] Erkenntnißweise, aus welcher alle ächten Werke der Künste, der Poesie
und selbst der Philosophie entspringen, ist es eigentlich, die man mit dem
Namen des Genies bezeichnet" (WWV II, Kap. 31, Hü 429-430). Laut Schopen-
hauer besteht das Genie „in einem abnormen Uebermaaß des Intellekts, wel-
ches seine Benutzung nur dadurch finden kann, daß es auf das Allgemeine
des Daseyns verwendet wird; wodurch es alsdann dem Dienste des ganzen
Menschengeschlechts obliegt" (WWV II, Kap. 31, Hü 431). Zu den Ambivalen-
zen in den Genie-Konzeptionen von Schopenhauer und N. vgl. Neymeyr 1996a,
265-286 (zur systematischen Problematik von Schopenhauers Konzept einer
genialen ,Abnormität' vgl. ebd., 67-85). - In den Parerga und Paralipomena II
betont Schopenhauer: „Das Genie [...] strahlt eigenes Licht aus, während die
andern nur das empfangene reflektiren" (PP II, Kap. 3, § 56, Hü 81). Und wenig
später heißt es hier über das Genie: „Sein Werk, als ein heiliges Depositum
und die wahre Frucht seines Daseyns, zum Eigenthum der Menschheit zu ma-