212 Schopenhauer als Erzieher
des Menschen in einer Lebensführung, die durch eine vernünftige Balance von
maßvollem Genuss und Selbstbeherrschung eine unerschütterliche Seelenruhe
(Ataraxie) sichert. Im Laufe der Rezeptionsgeschichte wurde der Epikureismus
oft fälschlich mit einem oberflächlichen Hedonismus gleichgesetzt. N. nimmt
hier indirekt auf spätere polemische Positionen Bezug, die den Epikureern zu
Unrecht eine mit moralisch einwandfreier Lebensführung nicht kompatible
hemmungslose Genusssucht zuschreiben: Im vorliegenden Kontext wendet er
sich konkret gegen eine illegitime Diffamierung derer, die sich mit intrinsischer
Motivation Bildung um ihrer selbst willen aneignen, mit ihr also nicht bloß
pragmatische Zwecke verfolgen. N. sieht solche Bildungswilligen verunglimpft,
wenn man ihnen Egoismus unterstellt und ihnen - gemäß gängigen Vorurtei-
len gegen den Epikureismus - sogar eine unmoralische Lustorientierung vor-
wirft. - Auch im ersten seiner Vorträge unter dem Titel Ueber die Zukunft unse-
rer Bildungsanstalten wendet sich N. gegen diejenigen, die anspruchsvolle
autonome Bildungsziele „als ,höheren Egoismus' als ,unsittlichen Bildungsepi-
kureismus' abzuthun" versuchen (KSA 1, 668, 8-9).
388, 23-25 „der Mensch hat einen nothwendigen Anspruch auf Erdenglück, da-
rum ist die Bildung nothwendig, aber auch nur darum!"] Bei diesem Zitat N.s
handelt es sich um ein leicht modifiziertes Selbstzitat, und zwar aus einer Vor-
stufe zur Vorrede der Vorträge Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten; vgl.
dazu KGW III 5/1, 723, 30-31: „Kurz: die Menschheit hat einen nothwendigen
Anspruch auf Erdenglück: deshalb ist die Bildung nothwendig."
389, 1-2 „Kulturstaat"] Später schreibt N. in der Götzen-Dämmerung: „Die Cul-
tur und der Staat - man betrüge sich hierüber nicht - sind Antagonisten: ,Cul-
tur - Staat' ist bloss eine moderne Idee [...] was gross ist im Sinn der Cultur war
unpolitisch, selbst antipolitisch" (KSA 6, 106, 12-17). N. stimmte in dieser
Hinsicht nicht nur mit Schopenhauer, sondern auch mit Jacob Burckhardt
überein, der den politischen und sozialen Entwicklungen der Moderne ebenso
wie der griechischen Polis der Antike einen einengenden Charakter zuschrieb,
für die „Kultur" eine weitgehende Freiheit von allem Staatlichen wünschte und
sich in diesem Sinne sogar zur „Apolitie" bekannte. - In der Publizistik der
1860er und 1870er Jahre ist sehr häufig von „Kulturstaat" oder „Culturstaat"
die Rede, auch im Horizont des Kulturkampfes. Vgl. dazu den Sammelband
Kulturstaat und Bürgergesellschaft. Preußen, Deutschland und Europa im 19. und
20. Jahrhundert von Neugebauer/Holtz (Hg.) 2010.
389, 21-28 Da wird drittens die Kultur von allen denen gefördert, welche sich
eines hässlichen oder langweiligen Inhaltes bewusst sind und über
ihn durch die sogenannte „schöne Form" täuschen wollen. Mit dem Aeusserli-
chen, mit Wort, Gebärde, Verzierung, Gepränge, Manierlichkeit soll der Beschau-
des Menschen in einer Lebensführung, die durch eine vernünftige Balance von
maßvollem Genuss und Selbstbeherrschung eine unerschütterliche Seelenruhe
(Ataraxie) sichert. Im Laufe der Rezeptionsgeschichte wurde der Epikureismus
oft fälschlich mit einem oberflächlichen Hedonismus gleichgesetzt. N. nimmt
hier indirekt auf spätere polemische Positionen Bezug, die den Epikureern zu
Unrecht eine mit moralisch einwandfreier Lebensführung nicht kompatible
hemmungslose Genusssucht zuschreiben: Im vorliegenden Kontext wendet er
sich konkret gegen eine illegitime Diffamierung derer, die sich mit intrinsischer
Motivation Bildung um ihrer selbst willen aneignen, mit ihr also nicht bloß
pragmatische Zwecke verfolgen. N. sieht solche Bildungswilligen verunglimpft,
wenn man ihnen Egoismus unterstellt und ihnen - gemäß gängigen Vorurtei-
len gegen den Epikureismus - sogar eine unmoralische Lustorientierung vor-
wirft. - Auch im ersten seiner Vorträge unter dem Titel Ueber die Zukunft unse-
rer Bildungsanstalten wendet sich N. gegen diejenigen, die anspruchsvolle
autonome Bildungsziele „als ,höheren Egoismus' als ,unsittlichen Bildungsepi-
kureismus' abzuthun" versuchen (KSA 1, 668, 8-9).
388, 23-25 „der Mensch hat einen nothwendigen Anspruch auf Erdenglück, da-
rum ist die Bildung nothwendig, aber auch nur darum!"] Bei diesem Zitat N.s
handelt es sich um ein leicht modifiziertes Selbstzitat, und zwar aus einer Vor-
stufe zur Vorrede der Vorträge Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten; vgl.
dazu KGW III 5/1, 723, 30-31: „Kurz: die Menschheit hat einen nothwendigen
Anspruch auf Erdenglück: deshalb ist die Bildung nothwendig."
389, 1-2 „Kulturstaat"] Später schreibt N. in der Götzen-Dämmerung: „Die Cul-
tur und der Staat - man betrüge sich hierüber nicht - sind Antagonisten: ,Cul-
tur - Staat' ist bloss eine moderne Idee [...] was gross ist im Sinn der Cultur war
unpolitisch, selbst antipolitisch" (KSA 6, 106, 12-17). N. stimmte in dieser
Hinsicht nicht nur mit Schopenhauer, sondern auch mit Jacob Burckhardt
überein, der den politischen und sozialen Entwicklungen der Moderne ebenso
wie der griechischen Polis der Antike einen einengenden Charakter zuschrieb,
für die „Kultur" eine weitgehende Freiheit von allem Staatlichen wünschte und
sich in diesem Sinne sogar zur „Apolitie" bekannte. - In der Publizistik der
1860er und 1870er Jahre ist sehr häufig von „Kulturstaat" oder „Culturstaat"
die Rede, auch im Horizont des Kulturkampfes. Vgl. dazu den Sammelband
Kulturstaat und Bürgergesellschaft. Preußen, Deutschland und Europa im 19. und
20. Jahrhundert von Neugebauer/Holtz (Hg.) 2010.
389, 21-28 Da wird drittens die Kultur von allen denen gefördert, welche sich
eines hässlichen oder langweiligen Inhaltes bewusst sind und über
ihn durch die sogenannte „schöne Form" täuschen wollen. Mit dem Aeusserli-
chen, mit Wort, Gebärde, Verzierung, Gepränge, Manierlichkeit soll der Beschau-