216 Schopenhauer als Erzieher
was gesunder Geschmack so wenig entbehren mag, wie neben Leckerbissen
das Brod, und was nur zähe Arbeit verschafft, Reinheit und Richtigkeit der
Sprache, straffe Verkettung der Gedanken, knappe Gedrungenheit. Er klagt, die
Sprache habe sich unüberwindlich gezeigt. Die Spuren seines Ringens, Unaus-
sprechliches auszusprechen, sind nur zu häufig in seinen Werken. Unstreitig
gewann dabei in seinen Händen die Sprache an Reichthum und Biegsamkeit,
aber die Nachlässigkeit und Willkür, mit welchen er sie, durch sein ungeheures
Talent verführt, in Prosa wie in Versen oft behandelte, waren nicht geeignet,
erziehend auf das noch unmündige Volk zu wirken, das zu ihm als Lehrer und
Führer emporblickte. Sieht man dann den alternden GOETHE mehr und mehr
in seine bekannte Manier verfallen, zu behaglichster Breite zerflossene Phrasen
voll nichtssagenden Füllsels, gewohnheitsmässiger Beiwörter und Wendungen
bequem aneinander zu hängen, so kann man nur den Gegensatz zu VOLTAIRE
beklagen, der bis zuletzt ein unerreichtes Vorbild raschen, frischen, treffenden
Ausdruckes blieb. Und wenn lange nach GOETHE'S Tode halb Deutschland
noch immer wie der alte GOETHE schrieb, so kann man sich nur wundern, wie
ein Volk von Kritikern das freilich schwerer nachzuahmende Beispiel wahrhaft
classischer Schreibart vergessen konnte, das doch schon von LESSING gegeben
war." Vgl. dazu den Quellennachweis von Antonio Morillas-Esteban 2011f, 326-
327.
391, 18 den deutschen Geist] N. greift diese Formel wenig später (in 393, 15)
nochmals auf. Schon im 23. Kapitel der Geburt der Tragödie ist prononciert von
„unserem deutschen Wesen" die Rede (KSA 1, 146, 22). Außerdem beschwört
N. hier „die Wiedergeburt des deutschen Mythus" (KSA 1, 147, 11-12)
durch Wagner und formuliert seine Hoffnung, „dass der deutsche Geist sich
auf sich selbst zurückbesinnt" (KSA 1, 149, 14-15).
391, 30-33 Richard Wagners Wort [...]: „der Deutsche ist eckig und ungelenk,
wenn er sich manierlich geben will; aber er ist erhaben und allen überlegen,
wenn er in das Feuer geräth"] Hier zitiert N. aus Wagners Schrift Über das Dirigi-
ren (GSD VIII, 387). Auch mit der für alle vier Unzeitgemässen Betrachtungen
wichtigen Gegenüberstellung von genuiner ,Bildung' und bloßer ,Gebildetheit'
orientiert sich N. an dieser Schrift (vgl. GSD VIII, 313-315). Vgl. dazu ausführli-
cher NK 366, 18-20 und NK 450, 8-13.
392, 2-30 jene in Deutschland überhandnehmende Neigung zur „schönen Form"
[...] eine lügnerische Eleganz [...] das feindseligste Gegenbild der deutschen Kultur]
Eine frühere Fassung dieser Partie in der Vorstufe zur Reinschrift des Druckma-
nuskripts lautet: „Jene Rufer nach Eleganz verdienen wahrhaftig dass man sich
über sie erzürne; denn sie geben eine schnell bereite, unverschämte Antwort auf
ein edles und tiefsinniges Bedenken, das der Deutsche schon längst auf dem
was gesunder Geschmack so wenig entbehren mag, wie neben Leckerbissen
das Brod, und was nur zähe Arbeit verschafft, Reinheit und Richtigkeit der
Sprache, straffe Verkettung der Gedanken, knappe Gedrungenheit. Er klagt, die
Sprache habe sich unüberwindlich gezeigt. Die Spuren seines Ringens, Unaus-
sprechliches auszusprechen, sind nur zu häufig in seinen Werken. Unstreitig
gewann dabei in seinen Händen die Sprache an Reichthum und Biegsamkeit,
aber die Nachlässigkeit und Willkür, mit welchen er sie, durch sein ungeheures
Talent verführt, in Prosa wie in Versen oft behandelte, waren nicht geeignet,
erziehend auf das noch unmündige Volk zu wirken, das zu ihm als Lehrer und
Führer emporblickte. Sieht man dann den alternden GOETHE mehr und mehr
in seine bekannte Manier verfallen, zu behaglichster Breite zerflossene Phrasen
voll nichtssagenden Füllsels, gewohnheitsmässiger Beiwörter und Wendungen
bequem aneinander zu hängen, so kann man nur den Gegensatz zu VOLTAIRE
beklagen, der bis zuletzt ein unerreichtes Vorbild raschen, frischen, treffenden
Ausdruckes blieb. Und wenn lange nach GOETHE'S Tode halb Deutschland
noch immer wie der alte GOETHE schrieb, so kann man sich nur wundern, wie
ein Volk von Kritikern das freilich schwerer nachzuahmende Beispiel wahrhaft
classischer Schreibart vergessen konnte, das doch schon von LESSING gegeben
war." Vgl. dazu den Quellennachweis von Antonio Morillas-Esteban 2011f, 326-
327.
391, 18 den deutschen Geist] N. greift diese Formel wenig später (in 393, 15)
nochmals auf. Schon im 23. Kapitel der Geburt der Tragödie ist prononciert von
„unserem deutschen Wesen" die Rede (KSA 1, 146, 22). Außerdem beschwört
N. hier „die Wiedergeburt des deutschen Mythus" (KSA 1, 147, 11-12)
durch Wagner und formuliert seine Hoffnung, „dass der deutsche Geist sich
auf sich selbst zurückbesinnt" (KSA 1, 149, 14-15).
391, 30-33 Richard Wagners Wort [...]: „der Deutsche ist eckig und ungelenk,
wenn er sich manierlich geben will; aber er ist erhaben und allen überlegen,
wenn er in das Feuer geräth"] Hier zitiert N. aus Wagners Schrift Über das Dirigi-
ren (GSD VIII, 387). Auch mit der für alle vier Unzeitgemässen Betrachtungen
wichtigen Gegenüberstellung von genuiner ,Bildung' und bloßer ,Gebildetheit'
orientiert sich N. an dieser Schrift (vgl. GSD VIII, 313-315). Vgl. dazu ausführli-
cher NK 366, 18-20 und NK 450, 8-13.
392, 2-30 jene in Deutschland überhandnehmende Neigung zur „schönen Form"
[...] eine lügnerische Eleganz [...] das feindseligste Gegenbild der deutschen Kultur]
Eine frühere Fassung dieser Partie in der Vorstufe zur Reinschrift des Druckma-
nuskripts lautet: „Jene Rufer nach Eleganz verdienen wahrhaftig dass man sich
über sie erzürne; denn sie geben eine schnell bereite, unverschämte Antwort auf
ein edles und tiefsinniges Bedenken, das der Deutsche schon längst auf dem