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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0248
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Stellenkommentar UB III SE 6, KSA 1, S. 393-394 221

den „,Typus' des jetzigen ,Professors', das Urbild der Charakterlosigkeit", ganz
im Sinne von N.s Gelehrtensatire durch das folgende Fehlverhalten: durch
„Flucht in die Geltungsangelegenheit, völlige Wurschtigkeit gegenüber der
Wahrheitsfrage" sowie durch den „Tanz um das papierne Kalb der ,Ergebnisse'
und der Entdeckungsrekorde und das fortgesetzte ,Besserwissen'" (Heidegger
2003, 108). Diese pejorative Perspektive Heideggers auf die Mentalität des Pro-
fessors, die seiner Meinung nach durch fragwürdige Sekundärmotivationen
statt durch ein genuines Wahrheitsethos bestimmt ist, korrespondiert auch mit
der Gelehrtenkritik, die N. sowohl in UB II HL als auch in UB III SE entfaltet.
394, 7-9 Man gewöhne sich aber nur erst daran, jede Erfahrung in ein dialekti-
sches Frage- und Antwortspiel und in eine reine Kopfangelegenheit zu überset-
zen] Schon in der Geburt der Tragödie wendet sich N. explizit gegen die „Dia-
lektik" und den „logischen Schematismus" (KSA 1, 94, 13). Er beschreibt sie
dort als Niedergangssymptome des „theoretischen Menschen" (KSA 1,
115, 8-9), den er pejorativ darstellt. Diesen Typus sieht N. durch Sokrates als
„dialektische[n] Held[en]" repräsentiert (KSA 1, 94, 17). Vgl. dazu die einschlä-
gigen Textpartien in den Kapiteln 14 und 15 der Geburt der Tragödie (KSA 1,
94, 11-34; 101, 5-29) und die Stellenkommentare dazu in NK 1/1. Die kritische
Bewertung des Theoretischen Menschen' überträgt N. dann auf den Typus des
Gelehrten. Die Reduktion von „Wissenschaft" auf Dialektik und Logik, die N.
in der Geburt der Tragödie vollzieht, entspricht den Vorbehalten, die Wagner
und Schopenhauer gegen eine rationalistisch verengte Wissenschaft hegen.
Dass N. seine Wissenschaftskritik in UB III SE radikalisiert und sie nun zu
einer rigorosen, psychologisch akzentuierten Abrechnung mit dem Gelehrten-
typus überhaupt verschärft, hängt auch mit seiner eigenen, nur fünf Jahre
nach seiner Berufung auf die Professur in Basel bereits großen Distanz zur
Tätigkeit des Philologen zusammen. Zum biographischen Hintergrund gehört
außerdem das für N. traumatische Erlebnis vernichtender Kritik, die seine Ge-
burt der Tragödie durch führende Fachgelehrte erfahren hatte (vgl. dazu die
Darstellung zur Wirkungsgeschichte von GT in NK 1/1). Seither wendete sich
N. auch in zahlreichen Nachlass-Notaten immer wieder polemisch gegen das
Gelehrtenwesen. Bei Schopenhauer und N. waren analoge biographische Fak-
toren von Bedeutung, die ihre eigenen Einschätzungen der Gelehrtenzunft
maßgeblich prägten: Beide litten über längere Zeit sehr unter einem Mangel an
positiver öffentlicher Resonanz auf ihre Werke. Und beide reagierten auf Signa-
le von Anerkennung daher mit besonderem Enthusiasmus. So erklärt sich auch
die emphatische Zukunftsperspektive in Schopenhauers lateinischem Wort-
spiel „legor et legar" (Ich werde gelesen, und ich werde gelesen werden), mit
dem er triumphal auf den beginnenden Ruhm reagiert. N. zitiert dieses selbst-
 
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