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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0250
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Stellenkommentar UB III SE 6, KSA 1, S. 394 223

hunderts populär. Denn sie entspricht dem modernen Konzept empirischer
Wissenschaft, deren Objektivitätsanspruch mit einer Negation der subjektiven
Perspektive des Beobachters einhergeht. Zugleich weist N.s medizinische Meta-
phorik auf eine spätere Schaffensphase voraus, in der er Philosophie in Analo-
gie zu naturwissenschaftlichem Experimentieren versteht und das Konzept
einer Experimentalphilosophie entwirft. So kontrastiert N. in der Fröhlichen
Wissenschaft den Wunder-Glauben der „lieben Religiösen" mit dem geistigen
Habitus der Intellektuellen, die sich auf experimentelle Wissenschaft und rati-
onale Analyse konzentrieren: „wir Anderen, Vernunft-Durstigen, wollen unse-
ren Erlebnissen so streng in's Auge sehen, wie einem wissenschaftlichen Ver-
suche, Stunde für Stunde, Tag um Tag!" (KSA 3, 551, 11-14). In seiner Schrift
Zur Genealogie der Moral überträgt N. die empirische Methode der Sektion aus
der Medizin in die Psychologie, indem er erklärt: „wir experimentiren mit uns,
wie wir es uns mit keinem Thiere erlauben würden, und schlitzen uns vergnügt
und neugierig die Seele bei lebendigem Leibe auf" (KSA 5, 357, 31-34). Und in
Jenseits von Gut und Böse empfiehlt N.: „treibt Vivisektion [...] an euch!"
(KSA 5, 153, 30-31). In welchem Maße N.s Selbstverständnis mit der Tätigkeit
eines ,Vivisektors' verbunden ist, zeigt auch ein Brief, den er im Mai 1884, also
ein Jahrzehnt nach UB III SE, an Malwida von Meysenbug schrieb: „Ich nannte
Frl. S<alome> einstmals in Tautenburg mein ,anatomisches Praeparat' - [...]
auch ich bin ein arger, arger vivisector" (KSB 6, Nr. 512, S. 504-505). - Zum
Paradigmenwechsel durch die experimentelle Forschung vor dem Horizont der
Wissenschaftsgeschichte in Relation zu N.s Metaphorik der Vivisektion, die
sich in Jenseits von Gut und Böse und Zur Genealogie der Moral besonders häu-
fig findet, vgl. NK 396, 24 (auch zur Rezeption durch Musil).
394, 31-33 die jägerische Lust an verschmitzten Fuchsgängen des Gedankens,
so dass nicht eigentlich die Wahrheit gesucht, sondern das Suchen gesucht wird]
Das Stilmittel der Figura etymologica dient hier zur Hervorhebung einer Selbst-
bezüglichkeit des Gelehrten, dem - N.s Darstellung zufolge - ein genuines,
sachorientiertes Erkenntnisinteresse fehlt. In der Inszenierung des Suchprozes-
ses, der als solcher genossen und zelebriert werde, verrate dieser Gelehrtentyp
seine letztlich egozentrische Motivation. - Die Thematik der Suche spielt schon
in UB I DS eine wesentliche Rolle, und zwar im Zusammenhang mit N.s Kritik
an einer philiströsen Mentalität. Diese kontrastiert er mit dem genuinen Such-
impuls der „grossen heroischen Gestalten" in der deutschen Kultur, die sich
im Unterschied zu den bloßen ,Bildungsphilistern' als „Suchende" erweisen
(KSA 1, 167, 12-15) und insofern nicht dem gleichermaßen naiven wie sakro-
sankten Bild von den angeblich immer schon fertigen „Klassiker[n]" entspre-
chen (KSA 1, 168, 7). Zur Thematik der Wahrheitssuche und deren Bedeutung
im Zusammenhang mit Schopenhauers Kritik an der akademischen Philoso-
 
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