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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0252
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Stellenkommentar UB III SE 6, KSA 1, S. 395-396 225

und wird ihrerseits vom Mond umkreist. Erst Keplers Theorie der Ellipsenbah-
nen verhalf dem kopernikanischen Weltsystem zum Durchbruch. Im Rahmen
der Auseinandersetzungen mit Galilei wurde das Werk des Kopernikus von
kirchlicher Seite attackiert und 1616 auf den Index gesetzt.
In der Philosophie bezeichnet der Begriff der ,kopernikanischen Wende'
überdies den erkenntnistheoretischen Paradigmenwechsel, den Kant durch
seine Transzendentalphilosophie einleitete und in der Kritik der reinen Vernunft
durchführte. - Später formuliert N. in seiner Schrift Zur Genealogie der Moral
prägnant die radikalen Konsequenzen, welche die Forschungsergebnisse des
Kopernikus für das Selbstverständnis des Menschen hatten: „Ist nicht gerade
die Selbstverkleinerung des Menschen, sein Wille zur Selbstverkleinerung seit
Kopernikus in einem unaufhaltsamen Fortschritte? Ach, der Glaube an seine
Würde, Einzigkeit, Unersetzlichkeit in der Rangabfolge der Wesen ist dahin, -
er ist Thier geworden, Thier, ohne Gleichniss, Abzug und Vorbehalt, er, der
in seinem früheren Glauben beinahe Gott (,Kind Gottes', ,Gottmensch') war ...
Seit Kopernikus scheint der Mensch auf eine schiefe Ebene gerathen, - er rollt
immer schneller nunmehr aus dem Mittelpunkte weg - wohin? in's Nichts? in's
,durchbohrende Gefühl seines Nichts'?" (KSA 5, 404, 12-21). Auf der Basis
wissenschaftlicher Paradigmenwechsel resultiert der Nihilismus aus einer Des-
orientierung durch Entwertung und Sinnverlust.
395, 33 Myopie] Dieses Fremdwort aus dem Altgriechischen bedeutet: Kurz-
sichtigkeit.
396, 4 Er zerlegt ein Bild in lauter Flecke] Hier beschreibt N. eine Art von intel-
lektuellem Pointillismus, bei dem Details auf Kosten eines Überblicks über das
Ganze vernachlässigt werden. Eine derartige Auflösung der Totalität weist be-
reits auf die Spätschrift Der Fall Wagner voraus. Dort charakterisiert N. die
„litterarische decadence" dadurch, „dass das Leben nicht mehr im Ganzen
wohnt. Das [...] Ganze ist kein Ganzes mehr. Aber das ist das Gleichniss für
jeden Stil der decadence: jedes Mal Anarchie der Atome, Disgregation des Wil-
lens" (KSA 6, 27, 17-23).
396, 15 Historie] Die einseitige Fixierung auf die bloße Rekonstruktion der Mo-
tive früherer Individuen kritisiert N. hier in deutlicher Affinität zu der von
Schopenhauer formulierten Geschichtskritik. Vgl. dazu die Belege in NK 374,
21-25.
396, 24 Vivisectionen] N. radikalisiert die Vorstellung der Sektion in der Patho-
logie, indem er durch die medizinische Metapher der ,Vivisektion' sogar die
operative Zerlegung eines lebendigen Forschungsobjekts zum Thema macht.
In seiner Schrift Zur Genealogie der Moral zieht er später drastische Konsequen-
 
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