Metadaten

Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0253
Lizenz: In Copyright
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
226 Schopenhauer als Erzieher

zen aus dieser empirischen Forschungsmethode, indem er sie dort aus der Tier-
medizin auf eine psychologische Anthropologie überträgt: „wir experimentiren
mit uns, wie wir es uns mit keinem Thiere erlauben würden, und schlitzen uns
vergnügt und neugierig die Seele bei lebendigem Leibe auf" (KSA 5, 357, 31-34).
Das Verfahren einer experimentell ansetzenden Medizin, das Claude Bernard
bereits in seiner wirkungsreichen Schrift Introduction ä l'etude de la medecine
experimentale (1865) propagierte, überträgt N. mithin auf die Forschung von
Psychologen und Philosophen. Sie soll einer radikalen Intention auf Erkennt-
nis und Selbsterkenntnis folgen - ohne jede Rücksicht des Forschers auf seine
eigenen Bedürfnisse und Empfindungen. In Jenseits von Gut und Böse gibt N.
daher die Devise aus: „treibt Vivisektion am ,guten Menschen', am ,homo bo-
nae voluntatis' .an euch!" (KSA 5, 153, 30-31). Insofern orientiert sich N.s
Konzept einer Experimentalphilosophie am Modell naturwissenschaftlichen
Experimentierens (vgl. auch NK 394, 21-22).
Die Koinzidenz von Subjekt und Objekt der Forschung bei der in Jenseits
von Gut und Böse propagierten Selbst-Vivisektion (KSA 5, 153, 30-31) ist von
autobiographischen Erfahrungen N.s nachhaltig geprägt, die er im Januar 1880
in einem verzweifelt-euphorischen Brief an den Mediziner Otto Eiser drastisch
offenbart: „Meine Existenz ist eine fürchterliche Last: ich hätte sie längst
von mir abgeworfen, wenn ich nicht die lehrreichsten Proben und Experimente
auf geistig-sittlichem Gebiete gerade in diesem Zustande des Leidens und der
fast absoluten Entsagung machte - diese erkenntnißdurstige Freudigkeit
bringt mich auf Höhen, wo ich über alle Marter und alle Hoffnungslosigkeit
siege. Im Ganzen bin ich glücklicher als je in meinem Leben: und doch! Bestän-
diger Schmerz, mehrere Stunden des Tages ein der Seekrankheit eng verwand-
tes Gefühl einer Halb-Lähmung [...], zur Abwechslung wüthende Anfälle ([...] ich
dürstete nach dem Tode). Nicht lesen können! Sehr selten schreiben! Nicht ver-
kehren mit Menschen! [...] Mein Trost sind meine Gedanken und Perspektiven"
(KSB 6, Nr. 1, S. 3-4). - „Experimente", die einer Selbst-Vivisektion ähneln,
avancieren dieser Beschreibung zufolge für N. zu einer kompensatorischen
Überlebensstrategie, um dem unerträglichen Leiden noch eine Art von ,Krank-
heitsgewinn' abzutrotzen: in Gestalt experimenteller Erkenntnis. Vor diesem
Hintergrund erscheint N.s These in der damals von ihm bereits begonnenen
Morgenröthe symptomatisch: „Erst der grosse Schmerz ist der letzte Befreier des
Geistes", der „uns Philosophen" dazu zwingt, „in unsre letzte Tiefe zu steigen"
(KSA 3, 350, 4-11). Entsprechendes gilt für sein Plädoyer in der Morgenröthe:
„Wir sind Experimente: wollen wir es auch sein!" (KSA 3, 274, 24). Zehn Jahre
nach UB III SE gesteht N. Malwida von Meysenbug im Mai 1884 brieflich, er
selbst sei „ein arger, arger vivisector" (KSB 6, Nr. 512, S. 505).
In Jenseits von Gut und Böse plädiert N. auch für ein ,Umlernen' „über die
deutsche Tiefe", und zwar durch „ein wenig Vivisektion der deutschen Seele"
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften