Stellenkommentar UB III SE 6, KSA 1, S. 396 227
(KSA 5, 184, 10-12), um dann in seiner Schrift Zur Genealogie der Moral natur-
wissenschaftliche Methodik und Decadence-Ästhetik in der anthropologischen
Bestimmung zu verbinden: „Wir modernen Menschen, wir sind die Erben der
Gewissens-Vivisektion und Selbst-Thierquälerei von Jahrtausenden: darin ha-
ben wir unsre längste Übung, unsre Künstlerschaft vielleicht, in jedem Fall
unser Raffinement, unsre Geschmacks-Verwöhnung" (KSA 5, 335, 14-18). In
den Schriften Jenseits von Gut und Böse (1886) und Zur Genealogie der Moral
(1887) sowie in nachgelassenen Notaten der 1880er Jahre gebraucht N. Begriffe
wie ,Vivisektion', ,Vivisector', ,vivisektorisch' mehr als zwanzigmal metapho-
risch für die Sphäre des Geistes, oft affirmativ, mitunter aber auch kritisch -
wie etwa im Hinblick auf die Auffassungen „des Spinoza, seine so naiv befür-
wortete Zerstörung der Affekte durch Analysis und Vivisektion derselben"
(KSA 5, 118, 23-25). Vgl. außerdem KSA 5, 106, 23; 153, 30; 166, 30; 343, 17-18.
Mit seiner Vorstellung von einer Experimentalphilosophie schließt N. an
bereits vorhandene Wissenschaftstraditionen an, die nach der Abkehr vom
aristotelisch-scholastisch geprägten Weltbild in der frühen Neuzeit entwickelt
worden waren. Im Zusammenhang mit den neuen Paradigmata, die beispiels-
weise Kopernikus, Kepler und Galilei zu bahnbrechenden neuen Forschungs-
ergebnissen geführt hatten, kam schon dem Titel von Francis Bacons Schrift
Novum Organum eine programmatische Bedeutung zu: In Abgrenzung von
Aristotelischen Prinzipien und von tradierten wissenschaftlichen Verfahren
propagiert Bacon in diesem Werk neue Prämissen, die den Primat empirischer
Forschung und experimenteller Methoden voraussetzen. Zum Themenkomplex
des experimentellen Denkens und seinen wissenschaftshistorischen Hinter-
gründen vgl. NK 3/1, 381-384. Zu den Implikationen einer Experimentalphilo-
sophie für N.s psychologische Prämissen vgl. Neymeyr 2012c, 73-98.
N.s eigenes Selbstverständnis als „arger vivisector" (KSB 6, Nr. 512, S. 505)
und seine Vorstellungen von einer psychologischen Transformation der medi-
zinischen Methode der Vivisektion, wie er sie in Jenseits von Gut und Böse und
Zur Genealogie der Moral thematisiert, wirkte auch in der Literatur des 20. Jahr-
hunderts weiter. So notierte Robert Musil 1940/41 in Stichworten zu den Auf-
zeichnungen eines Schriftstellers rückblickend: „Dieser Spaltungsvorgang, die
Selbstbeobachtung, wird etwas später besonders lebendig. Mr. le vivisecteur.
Bei mir kam es überdies auch von der Zeitmode. Ä la Nietzsche: ein Psychologe
[...]" (Musil: Gesammelte Werke, 1978, Bd. II, 923). Literarisch agiert Musil als
ein an N. geschulter „Mr. le vivisecteur", indem er in seiner Kurzprosa-Samm-
lung Nachlaß zu Lebzeiten (1936) in einem Kapitel mit dem an N.s Unzeitgemäs-
se Betrachtungen erinnernden Titel „Unfreundliche Betrachtungen" eine symp-
tomatische, von N. inspirierte Sezier-Metaphorik verwendet. So ist im Text
Triedere bei der Betrachtung eines Spaziergängers durch das Fernglas explizit
(KSA 5, 184, 10-12), um dann in seiner Schrift Zur Genealogie der Moral natur-
wissenschaftliche Methodik und Decadence-Ästhetik in der anthropologischen
Bestimmung zu verbinden: „Wir modernen Menschen, wir sind die Erben der
Gewissens-Vivisektion und Selbst-Thierquälerei von Jahrtausenden: darin ha-
ben wir unsre längste Übung, unsre Künstlerschaft vielleicht, in jedem Fall
unser Raffinement, unsre Geschmacks-Verwöhnung" (KSA 5, 335, 14-18). In
den Schriften Jenseits von Gut und Böse (1886) und Zur Genealogie der Moral
(1887) sowie in nachgelassenen Notaten der 1880er Jahre gebraucht N. Begriffe
wie ,Vivisektion', ,Vivisector', ,vivisektorisch' mehr als zwanzigmal metapho-
risch für die Sphäre des Geistes, oft affirmativ, mitunter aber auch kritisch -
wie etwa im Hinblick auf die Auffassungen „des Spinoza, seine so naiv befür-
wortete Zerstörung der Affekte durch Analysis und Vivisektion derselben"
(KSA 5, 118, 23-25). Vgl. außerdem KSA 5, 106, 23; 153, 30; 166, 30; 343, 17-18.
Mit seiner Vorstellung von einer Experimentalphilosophie schließt N. an
bereits vorhandene Wissenschaftstraditionen an, die nach der Abkehr vom
aristotelisch-scholastisch geprägten Weltbild in der frühen Neuzeit entwickelt
worden waren. Im Zusammenhang mit den neuen Paradigmata, die beispiels-
weise Kopernikus, Kepler und Galilei zu bahnbrechenden neuen Forschungs-
ergebnissen geführt hatten, kam schon dem Titel von Francis Bacons Schrift
Novum Organum eine programmatische Bedeutung zu: In Abgrenzung von
Aristotelischen Prinzipien und von tradierten wissenschaftlichen Verfahren
propagiert Bacon in diesem Werk neue Prämissen, die den Primat empirischer
Forschung und experimenteller Methoden voraussetzen. Zum Themenkomplex
des experimentellen Denkens und seinen wissenschaftshistorischen Hinter-
gründen vgl. NK 3/1, 381-384. Zu den Implikationen einer Experimentalphilo-
sophie für N.s psychologische Prämissen vgl. Neymeyr 2012c, 73-98.
N.s eigenes Selbstverständnis als „arger vivisector" (KSB 6, Nr. 512, S. 505)
und seine Vorstellungen von einer psychologischen Transformation der medi-
zinischen Methode der Vivisektion, wie er sie in Jenseits von Gut und Böse und
Zur Genealogie der Moral thematisiert, wirkte auch in der Literatur des 20. Jahr-
hunderts weiter. So notierte Robert Musil 1940/41 in Stichworten zu den Auf-
zeichnungen eines Schriftstellers rückblickend: „Dieser Spaltungsvorgang, die
Selbstbeobachtung, wird etwas später besonders lebendig. Mr. le vivisecteur.
Bei mir kam es überdies auch von der Zeitmode. Ä la Nietzsche: ein Psychologe
[...]" (Musil: Gesammelte Werke, 1978, Bd. II, 923). Literarisch agiert Musil als
ein an N. geschulter „Mr. le vivisecteur", indem er in seiner Kurzprosa-Samm-
lung Nachlaß zu Lebzeiten (1936) in einem Kapitel mit dem an N.s Unzeitgemäs-
se Betrachtungen erinnernden Titel „Unfreundliche Betrachtungen" eine symp-
tomatische, von N. inspirierte Sezier-Metaphorik verwendet. So ist im Text
Triedere bei der Betrachtung eines Spaziergängers durch das Fernglas explizit