228 Schopenhauer als Erzieher
vom optischen „Schnitt durch die Mitte" die Rede, „der die Beine auspräparier-
te" (ebd., 522), und die „Anmut einer Frau ist tödlich durchschnitten" (ebd.,
521). Zur (partiell anatomisch-sezierenden) Perspektive in Musils Triedere und
zu der Relation zu N.s Perspektivismus (z. B. in KSA 5, 365, 12-14) vgl. Neymeyr
2017/18, 75-77. Außerdem: Neymeyr 2005, 324-329, 404-408.
397, 19-20 Solche Naturen sind Sammler, Erklärer, Verfertiger von Indices, Her-
barien] Herbarien sind systematisierte Sammlungen von gepressten und ge-
trockneten Pflanzen. N. charakterisiert mit dem Begriff ,Herbarien' die Mentali-
tät der sterilen Gelehrten. Bereits Schopenhauer verwendet diesen Begriff mit
analoger Absicht. Im Kapitel 21 der Parerga und Paralipomena II, das den Titel
„Ueber Gelehrsamkeit und Gelehrte" trägt, inszeniert er einen kontrastiv ange-
legten Vergleich: „Wirklich verhält auch die vollendeteste Gelehrsamkeit sich
zum Genie, wie ein Herbarium zur stets sich neu erzeugenden, ewig frischen,
ewig jungen, ewig wechselnden Pflanzenwelt" (PP II, Kap. 21, § 248, Hü 511).
397, 24 Flucht vor der Langeweile] Dass N. hier die Langeweile thematisiert,
hängt auch mit dem ausgeprägten Interesse Schopenhauers an der Problema-
tik der Langeweile zusammen: In seinem Hauptwerk betrachtet er das Leben
des Menschen als eine leidensvolle, zwischen Zuständen von Not und Lange-
weile wechselnde Existenz und vergleicht „Wollen und Streben" mit „einem
unlöschbaren Durst" (WWV I, § 57, Hü 367), um dann fortzufahren: „Die Basis
alles Wollens aber ist Bedürftigkeit, Mangel, also Schmerz, dem er folglich
schon ursprünglich und durch sein Wesen anheimfällt. Fehlt es ihm hingegen
an Objekten des Wollens, indem die zu leichte Befriedigung sie ihm sogleich
wieder wegnimmt; so befällt ihn furchtbare Leere und Langeweile: d. h. sein
Wesen und sein Daseyn selbst wird ihm zur unerträglichen Last. Sein Leben
schwingt also, gleich einem Pendel, hin und her, zwischen dem Schmerz und
der Langenweile, welche Beide in der That dessen letzte Bestandtheile sind"
(WWV I, § 57, Hü 367-368).
Die daraus resultierende existentielle Dynamik beschreibt Schopenhauer
so: „Zwischen Wollen und Erreichen fließt nun durchaus jedes Menschenleben
fort. Der Wunsch ist, seiner Natur nach, Schmerz: die Erreichung gebiert
schnell Sättigung: das Ziel war nur scheinbar: der Besitz nimmt den Reiz weg:
unter einer neuen Gestalt stellt sich der Wunsch, das Bedürfniß wieder ein: wo
nicht, so folgt Oede, Leere, Langeweile, gegen welche der Kampf eben so quä-
lend ist, wie gegen die Noth" (WWV I, § 57, Hü 370). Da die „Langeweile [...]
immer bereit ist jede Pause zu füllen, welche die Sorge läßt" (WWV I, § 58,
Hü 380), gilt laut Schopenhauer: „glücklich genug, wenn noch etwas zu wün-
schen und zu streben übrig blieb, damit das Spiel des steten Ueberganges vom
Wunsch zur Befriedigung und von dieser zum neuen Wunsch, dessen rascher
vom optischen „Schnitt durch die Mitte" die Rede, „der die Beine auspräparier-
te" (ebd., 522), und die „Anmut einer Frau ist tödlich durchschnitten" (ebd.,
521). Zur (partiell anatomisch-sezierenden) Perspektive in Musils Triedere und
zu der Relation zu N.s Perspektivismus (z. B. in KSA 5, 365, 12-14) vgl. Neymeyr
2017/18, 75-77. Außerdem: Neymeyr 2005, 324-329, 404-408.
397, 19-20 Solche Naturen sind Sammler, Erklärer, Verfertiger von Indices, Her-
barien] Herbarien sind systematisierte Sammlungen von gepressten und ge-
trockneten Pflanzen. N. charakterisiert mit dem Begriff ,Herbarien' die Mentali-
tät der sterilen Gelehrten. Bereits Schopenhauer verwendet diesen Begriff mit
analoger Absicht. Im Kapitel 21 der Parerga und Paralipomena II, das den Titel
„Ueber Gelehrsamkeit und Gelehrte" trägt, inszeniert er einen kontrastiv ange-
legten Vergleich: „Wirklich verhält auch die vollendeteste Gelehrsamkeit sich
zum Genie, wie ein Herbarium zur stets sich neu erzeugenden, ewig frischen,
ewig jungen, ewig wechselnden Pflanzenwelt" (PP II, Kap. 21, § 248, Hü 511).
397, 24 Flucht vor der Langeweile] Dass N. hier die Langeweile thematisiert,
hängt auch mit dem ausgeprägten Interesse Schopenhauers an der Problema-
tik der Langeweile zusammen: In seinem Hauptwerk betrachtet er das Leben
des Menschen als eine leidensvolle, zwischen Zuständen von Not und Lange-
weile wechselnde Existenz und vergleicht „Wollen und Streben" mit „einem
unlöschbaren Durst" (WWV I, § 57, Hü 367), um dann fortzufahren: „Die Basis
alles Wollens aber ist Bedürftigkeit, Mangel, also Schmerz, dem er folglich
schon ursprünglich und durch sein Wesen anheimfällt. Fehlt es ihm hingegen
an Objekten des Wollens, indem die zu leichte Befriedigung sie ihm sogleich
wieder wegnimmt; so befällt ihn furchtbare Leere und Langeweile: d. h. sein
Wesen und sein Daseyn selbst wird ihm zur unerträglichen Last. Sein Leben
schwingt also, gleich einem Pendel, hin und her, zwischen dem Schmerz und
der Langenweile, welche Beide in der That dessen letzte Bestandtheile sind"
(WWV I, § 57, Hü 367-368).
Die daraus resultierende existentielle Dynamik beschreibt Schopenhauer
so: „Zwischen Wollen und Erreichen fließt nun durchaus jedes Menschenleben
fort. Der Wunsch ist, seiner Natur nach, Schmerz: die Erreichung gebiert
schnell Sättigung: das Ziel war nur scheinbar: der Besitz nimmt den Reiz weg:
unter einer neuen Gestalt stellt sich der Wunsch, das Bedürfniß wieder ein: wo
nicht, so folgt Oede, Leere, Langeweile, gegen welche der Kampf eben so quä-
lend ist, wie gegen die Noth" (WWV I, § 57, Hü 370). Da die „Langeweile [...]
immer bereit ist jede Pause zu füllen, welche die Sorge läßt" (WWV I, § 58,
Hü 380), gilt laut Schopenhauer: „glücklich genug, wenn noch etwas zu wün-
schen und zu streben übrig blieb, damit das Spiel des steten Ueberganges vom
Wunsch zur Befriedigung und von dieser zum neuen Wunsch, dessen rascher