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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0267
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240 Schopenhauer als Erzieher

Intentionen der Natur voraussetzt. Aufgrund seines permanenten Getrieben-
seins ist der Wille nach Schopenhauers Vorstellung essentiell mit Leiden ver-
bunden und insofern erlösungsbedürftig. Die Möglichkeit einer willenlosen
Kontemplation spricht Schopenhauer insbesondere Künstlern und Philoso-
phen zu. - N. adaptiert dieses Konzept, wenn er hier davon ausgeht, dass die
Natur „durch die Erzeugung des Philosophen und des Künstlers das Dasein
deutsam und bedeutsam machen wollte".
Indem N. Philosophen und Künstler in eine Beziehung zur Leitvorstellung
der ,Erlösung' bringt, schließt er an Konzepte Schopenhauers und Wagners an.
Derartige Erlösungsvorstellungen reichen bis in die Frühromantik zurück. Sie
finden beispielsweise bei Novalis Ausdruck, der in seinen Hymnen an die Nacht
eine religiöse Todesmystik entfaltet, die als philosophische Gedankenlyrik zu
verstehen ist. - Schopenhauers Konzeption der Verneinung des Willens zum
Leben, die dem Menschen die Erlösung von der Leidensverstricktheit seiner
Existenz ermöglichen soll, impliziert allerdings keineswegs eine Empfehlung
des Suizids, vielmehr propagiert er eine „Selbstüberwindung" aus „rein morali-
schem Antriebe" und begründet sie so: „Ich will mich dem Leiden nicht ent-
ziehn, damit es den Willen zum Leben, dessen Erscheinung so jammervoll ist,
aufzuheben beitragen könne, indem es die mir schon jetzt aufgehende Er-
kenntniß vom eigentlichen Wesen der Welt dahin verstärke, daß sie zum endli-
chen Quietiv meines Willens werde und mich auf immer erlöse" (WWV I, § 69,
Hü 473). Zur Thematik der Erlösung bei Schopenhauer im Zusammenhang mit
seinem Konzept der Verneinung des Willens zum Leben, für dessen philosophi-
sche Entfaltung er einen Prioritätsanspruch erhebt, vgl. NK 380, 15-17.
Mit seiner anthropomorphen Vorstellung der Natur und des Willens, die
an zentralen Prämissen der Schopenhauerschen Philosophie orientiert ist, un-
terliegt N. selbst tendenziell dem Verdikt, das er in seiner nachgelassenen
Frühschrift Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne formuliert:
Hier kritisiert er die Mentalität derer, die „den Menschen als Maass an alle
Dinge zu halten" pflegen (KSA 1, 883, 20-21), und stellt als deren Extremfall
die Hybris des Philosophen dar, der als der „stolzeste Mensch" in grenzenloser
Selbstüberschätzung gleichsam „von allen Seiten die Augen des Weltalls tele-
skopisch auf sein Handeln und Denken gerichtet zu sehen" glaubt (KSA 1, 875,
23 - 876, 2). Dieser Anthropomorphismus der Natur, den N. hier - anders als in
UB III SE - im Medium der Satire inszeniert, weist ebenfalls auf Schopenhauers
Willensmetaphysik zurück. Vgl. dazu die Belege in NK 404, 17. - Später aller-
dings distanziert sich N. von Aspekten der Schopenhauerschen Willensmeta-
physik, die er in der Fröhlichen Wissenschaft als Ausdruck einer „uralten My-
thologie" betrachtet. Er selbst hält Schopenhauers ,Glauben', dass „Alles, was
da sei, nur etwas Wollendes sei" (KSA 3, 483, 15), seine eigene Auffassung ent-
 
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