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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0268
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Stellenkommentar UB III SE 7, KSA 1, S. 404-405 241

gegen, dass es „nur bei den intellectuellen Wesen" einen Willen gebe, da die-
ser „eine Vorstellung von Lust und Unlust" voraussetze und sich insofern der
Tätigkeit eines „interpretirenden Intellects" verdanke (KSA 3, 483, 21-27).
Zu unterschiedlichen Einflüssen auf N.s Willenskonzepte (auch zu Johann Juli-
us Baumanns Handbuch der Moral) vgl. Brusotti 2016, 205. Zu den Analogien
und Differenzen zwischen Schopenhauer und N. vgl. Neymeyr 2014b, 286-294
und 2018, 293-304.
405, 14-16 Der Künstler und der Philosoph sind Beweise gegen die Zweckmäs-
sigkeit der Natur in ihren Mitteln, ob sie schon den vortrefflichsten Beweis für die
Weisheit ihrer Zwecke abgeben.] N. richtet hier eine hypothetische Perspektive
von außen auf die Natur. Mit der auffälligen Tendenz zur anthropomorphen
Beschreibung der Natur schließt er dabei erneut an Darstellungsstrategien
Schopenhauers an (vgl. dazu NK 404, 17 und NK 404, 20-23). Gewisse Inkonse-
quenzen liegen allerdings in der Charakterisierung der Natur in UB III SE: N.
attestiert der Natur Melancholie (404, 20), Ungeschicklichkeit (405, 2) sowie
Verschwendung (404, 31) durch Unerfahrenheit (404, 32) und Irrtümer (405, 5)
sowie Verdruss (405, 5-6), Vergeudung (405, 6) und Schwerfälligkeit (405, 8),
obwohl er „die Weisheit ihrer Zwecke" hier nicht bezweifelt, sondern sogar
nachdrücklich behauptet (405, 16). Dieses Dilemma versucht N. zu lösen, in-
dem er mit der unzureichenden Wirksamkeit der Philosophen und Künstler
argumentiert, deren Werken oftmals eine kongeniale Rezeption versagt bleibe.
Dass ihnen trotz des hohen Einsatzes an Mitteln eine allzu geringe Wirkung
beschieden sei, betrachtet N. daher als Indiz für ökonomisch unkluge Strate-
gien der Natur.
Indem er die Naturteleologie auch hinterfragt, weicht N. allerdings von der
Schopenhauerschen Willensmetaphysik ab. Das Kapitel 26 der Welt als Wille
und Vorstellung II trägt den Titel „Zur Teleologie" und beginnt mit der program-
matischen Erklärung: „Die durchgängige, auf den Bestand jedes Wesens sich
beziehende Zweckmäßigkeit der organischen Natur, nebst der Angemessenheit
dieser zur unorganischen, kann bei keinem philosophischen System unge-
zwungener in den Zusammenhang dessen treten, als bei dem, welches dem
Daseyn jedes Naturwesens einen Willen zum Grunde legt, der demnach sein
Wesen und Streben nicht bloß erst in den Aktionen, sondern auch schon in
der Gestalt des erscheinenden Organismus ausspricht" (WWV II, Kap. 26,
Hü 372). Bereits in der Welt als Wille und Vorstellung I betont Schopenhauer
„die Bedeutung der unleugbaren Zweckmäßigkeit aller organischen Natur-
produkte, die wir sogar a priori bei der Betrachtung und Beurtheilung dersel-
ben voraussetzen" (WWV I, § 28, Hü 184). Und er fährt fort: „Diese Zweck-
mäßigkeit ist doppelter Art: theils eine innere, d. h. eine so geordnete
Uebereinstimmung aller Theile eines einzelnen Organismus, daß die Erhaltung
 
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