Metadaten

Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0299
Lizenz: In Copyright
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
272 Schopenhauer als Erzieher

Analog übt bereits Schopenhauer in seinen Parerga und Paralipomena II
Kritik an „der gegenwärtigen, geistig impotenten [...] Periode", die sich in einer
naiven Geschichtsteleologie mit dem „prätentiösen [...] Worte Jetztzeit' be-
zeichnet, als wäre ihr Jetzt [...] das Jetzt, welches heranzubringen alle anderen
Jetzt allein dagewesen" (PP II, Kap. 11, § 146, Hü 304). Dass N. das Wort Jetzt-
zeit' von Schopenhauer übernimmt, zeigt ein Beleg in UB I DS, wo er sich sogar
explizit auf ihn beruft: Hier thematisiert er die „,in letzter Nacht ausgeheckten
Monstra der Jetztzeit-Schreiberei', wie Schopenhauer sagt" (KSA 1, 223, 2-4).
Den Begriff „Jetztzeit" verwendet N. nur in den frühen Baseler Jahren, bei-
spielsweise in der Geburt der Tragödie (KSA 1, 149, 2) und in den nachgelasse-
nen Vorträgen Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten, in denen von der
„deutsche[n] Kultur der Jetztzeit" die Rede ist (KSA 1, 690, 1; 705, 24-25). Vgl.
auch KSA 1, 691. Entschieden kritisiert N. die Strategie der „Jünger der Jetzt-
zeit'", den „naturgemäßen philosophischen Trieb durch die sogenannte ,histo-
rische Bildung' zu paralysiren" (KSA 1, 742, 11-14). Auch in den Fünf Vorreden
polemisiert N. gegen „die deutsche Cultur der Jetztzeit" (KSA 1, 780, 7-8), und
zwar konkret mit Bezug auf „die ,Gebildeten' [...] und die ,Philister'"
(KSA 1, 779, 34 - 780, 2). Vgl. ergänzend auch NK 407, 29-31.
417, 26-29 Die einzige Kritik einer Philosophie, die möglich ist und die auch
etwas beweist, nämlich zu versuchen, ob man nach ihr leben könne, ist nie auf
Universitäten gelehrt worden] Diese existentielle Dimension der Philosophie be-
tont N. in UB III SE bereits an früherer Stelle (350, 23-31): „Ich mache mir aus
einem Philosophen gerade so viel als er im Stande ist ein Beispiel zu geben.
[...] Aber das Beispiel muss durch das sichtbare Leben und nicht bloss durch
Bücher gegeben werden, also dergestalt, wie die Philosophen Griechenlands
lehrten, durch Miene, Haltung, Kleidung, Speise, Sitte mehr als durch Spre-
chen oder gar Schreiben." In dieser Hinsicht unterscheiden sich die Prämissen
N.s und Schopenhauers grundlegend. Denn Schopenhauer hält eine Differenz
von Theorie und Praxis für legitim und erklärt in der Welt als Wille und Vorstel-
lung I ausdrücklich, es sei „so wenig nöthig, daß der Heilige ein Philosoph, als
daß der Philosoph ein Heiliger sei: so wie es nicht nöthig ist, daß ein vollkom-
men schöner Mensch ein großer Bildhauer, oder daß ein großer Bildhauer auch
selbst ein schöner Mensch sei" (WWV I, § 68, Hü 453). Denn Schopenhauer hält
es für ein fragwürdiges Postulat „an einen Moralisten, daß er keine andere
Tugend empfehlen soll, als die er selbst besitzt. Das ganze Wesen der Welt
abstrakt, allgemein und deutlich in Begriffen zu wiederholen, und es so als
reflektirtes Abbild in bleibenden und stets bereit liegenden Begriffen der Ver-
nunft niederzulegen: dieses und nichts anderes ist Philosophie" (ebd.).
Die existentielle Dimension der Philosophie und die daraus abzuleitenden
Lebensprinzipien beansprucht N. auch selbst gemäß seiner Schrift UB III SE
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften