Metadaten

Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0302
License: In Copyright
Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
Stellenkommentar UB III SE 8, KSA 1, S. 418-420 275

heit, auch in der Schrift Ueber die Universitäts-Philosophie, auf die N. hier ex-
plizit Bezug nimmt (418, 22). Den desolaten Zustand, in den die zeitgenössische
Philosophie aufgrund der dekadenten „Nachkommenschaft" geraten sei, be-
klagt N. mit ähnlichem Nachdruck, wie dies zu seiner Zeit bereits Schopenhau-
er tat. N. führt die Problematik der „Universitätsphilosophie" seiner Epoche
hier nach dem Metempsychose-Mythos der indischen Philosophie auf die „Tha-
ten" jener philosophischen „Väter" (Fichte, Schelling und Hegel) zurück, die
sich aus innerer Notwendigkeit in epigonalen Adepten prolongieren.
419, 1-2 für mich zum Beispiel waren die akademischen Philosophen ganz und
gar gleichgültige Menschen] N. entwirft in dieser Textpassage (419-420) ein ne-
gatives Bild der zeitgenössischen Universitätsphilosophen, die seines Erach-
tens oft Forschungsergebnisse anderer Wissenschaften kompilatorisch für
eigene Zwecke nutzen und sich entweder an kühnen Systementwürfen versu-
chen oder aus der Unmöglichkeit prinzipieller Erkenntnis vorschnelle metho-
dische Konsequenzen ziehen, indem sie auf Wissen generell verzichten und
obskurantistischen Tendenzen verfallen. Kantischen Prämissen folgend, stili-
sieren sie sich laut N. mitunter sogar zu „Grenzwächter[n] und Aufpasser[n]
der Wissenschaften" (419, 23). Die imaginäre Metaebene, auf die sie sich mithil-
fe ihres „müssigen Scepticismus" (419, 24-25) begeben, hat nach N.s Ansicht
einen hybriden Führungsanspruch zur Folge, den er kritisch hinterfragt. Den
angeblich avantgardistischen Status der Philosophen konterkariert er mit dem
sarkastischen Hinweis, diese Philosophen gingen „nur noch in dem Sinne den
Wissenschaften voran, wie das Wild vor den Jägern" (419, 20-21).
419, 7-8 Man traute ihnen zu, wenig zu wissen und nie um eine verdunkelnde
Wendung verlegen zu sein] Ähnlich wie Schopenhauer kontrastiert auch N.
das Wahrheitsethos des ,echten' Philosophen mit einem pragmatischen Ob-
skurantismus, den die Universitätsphilosophen bewusst als Strategie zur Ver-
schleierung der eigenen geistigen Substanzlosigkeit und „Scharlatanerie"
(PP I, Hü 194) einsetzen. Vgl. dazu PP I, Hü 172, 173, 186 sowie UB III SE 419,
425.
420, 6 Lucrez] Von dem römischen Dichter Lucretius Carus (ca. 97-55 v. Chr.)
stammt das bedeutende, aus 7421 Hexametern bestehende Lehrgedicht De re-
rum natura (Über die Natur der Dinge). In sechs Büchern stellt es Physik (Atom-
lehre: Buch 1 und 2), das Prinzip des Lebens (anima), den Geist (animus) (Buch
3 und 4) und die Welt der Erscheinungen sowie die Entstehung und Entwick-
lung der menschlichen Kultur dar (Buch 5 und 6). Lukrez apostrophiert vier-
mal, jeweils am Anfang eines Buches, sein philosophisches Vorbild Epikur als
Befreier der Menschheit von Aberglauben, Götterfurcht und Todesangst. Wie
Epikur weist Lukrez die Vorstellung zurück, dass die Götter in das Leben ein-
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften