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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0311
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284 Schopenhauer als Erzieher

zu übertragen und im Kontext seiner Zeitkritik zu funktionalisieren. Vgl. auch
NK 364, 7-11.
425, 27 die Knechtschaft unter öffentlichen Meinungen] Die Problematik der
„öffentlichen Meinungen" ist in N.s Frühwerk kontinuierlich als Thema prä-
sent und wird von ihm auch in UB I DS bereits reflektiert. Dies erscheint gerade
im Zusammenhang mit ,unzeitgemäßen' Betrachtungen konsequent, weil für
deren Programmatik die Abgrenzung von der communis opinio konstitutiv ist.
N. wendet sich in seinen Unzeitgemässen Betrachtungen wiederholt energisch
gegen die „Tyrannei" der „öffentliche[n] Meinungen" (353, 33-34), die er we-
sentlich durch die „Journalisten" geprägt sieht. Im vorliegenden Kontext sieht
N. „die Knechtschaft unter öffentlichen Meinungen" mit der Gefährdung „der
Freiheit" verbunden, die seiner Ansicht nach allerdings zugleich proportional
die Reputation der Philosophie steigern kann (vgl. 425, 27-29). Vgl. auch 353,
32 - 354, 1. Zur Thematik der „öffentlichen Meinungen" vgl. ausführlich
NK 159, 2. - Nach N.s Auffassung führt ein Journalismus, der die „öffentlichen
Meinungen" dominiert, zu kulturellen Depravationen, und zwar durch das Dik-
tat des Zeitgeistes; wenn er sogar akademische Institutionen bestimmt, beginnt
„der Universitätsgeist [...] sich mit dem Zeitgeiste zu verwechseln" (425, 6-7).
Je mehr sich in einer Gesellschaft anstelle „einer philosophischen [...] Gesin-
nung" der „Journalismus" durchsetzt, desto mehr regiert der „Geist und Un-
geist des Tages und der Tageblätter" (365, 3-7).
Mit seinen Attacken auf die „öffentliche Meinung" verbindet N. in den Un-
zeitgemässen Betrachtungen wiederholt kritische Bemerkungen über die Jour-
nalisten', die ,Zeitungsschreiberei', die ,Presse' und die Zeitungssprache, und
zwar im Anschluss an polemische Thesen Schopenhauers. Dazu und zur be-
sonderen Konjunktur der Publizistik in der politisierten Zeitsituation seit den
1830er Jahren vgl. NK 365, 6-7. Indem N. Kritik am Monopol der „öffentlichen
Meinungen" übt, propagiert er zugleich einen höheren Anspruch an „Bildung"
und „Kultur", als ihn seines Erachtens Bildungsphilister und Journalisten zu
verwirklichen vermögen. Zum Spannungsverhältnis zwischen genuiner ,Bil-
dung' und bloßer ,Gebildetheit' vgl. NK 366, 18-20 und NK 161, 2-3.
Bereits in der Anfangspassage von UB I DS rückt N. die Problematik der
„öffentlichen Meinung" angesichts aktueller Ereignisse in einen größeren poli-
tischen Horizont, indem er sich konkret von dem „Irrthum der öffentlichen
Meinung" abgrenzt, der Sieg im deutsch-französischen Krieg von 1870/71 habe
auch „die deutsche Kultur in jenem Kampfe" über die französische triumphie-
ren lassen (KSA 1, 159, 16-18). N. selbst hält diese Ansicht für eine höchst
schädliche Illusion und verurteilt die durch den Kriegssieg ausgelöste nationa-
listische Euphorie, die einen unrealistischen Kulturoptimismus der Deutschen
evoziert habe. Indem N. diese Einschätzung als nationalistische Hybris und
 
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