Metadaten

Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0323
Lizenz: In Copyright
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
296 Richard Wagner in Bayreuth

später zur Ursache seines Bruchs mit Richard Wagner stilisieren: An Wagners
Parsifal, den Thomas Mann als ,Greisenwerk' von einer „majestätisch-skleroti-
schen Müdigkeit" bestimmt sieht (Bd. IX, 367), befremdet N. die christliche My-
thologie und die sinnenfeindliche Keuschheitsideologie (KSA 6, 429, 1, - 432,
19). Kritisch dazu: Knoepffler (2008, 411-414).
Schon in UB IV WB betont N. die „nervöse Hast" und „Reizbarkeit" des
jungen Wagner, seine „hochgespannten Stimmungen" und abrupten Wechsel
von „Augenblicken seelenvollster Gemüthsstille in das Gewaltsame und Lär-
mende" (KSA 1, 435, 30 - 436, 2). Diese exzentrische Disposition Wagners hebt
auch Thomas Mann hervor (Bd. IX, 379, 394, 409): Er betont die „tragische
Pathetik seines Wesens" und attestiert ihm (in Anspielung auf eine Figur E.T.A.
Hoffmanns) sogar eine „Kapellmeister-Kreisler-Exzentrizität" (Bd. IX, 409). -
Das extreme Spektrum der Emotionen, das N. dem Komponisten zuschreibt, ist
zugleich mit einer großen Spannweite ästhetischer Interessen verbunden. So
erklärt N. pointiert: „die Malerei, die Dichtkunst, die Schauspielerei, die Musik
kamen ihm so nahe als die gelehrtenhafte Erziehung und Zukunft; wer ober-
flächlich hinblickte, mochte meinen, er sei zum Dilettantisiren geboren" (436,
4-7).
Bereits am 27. Oktober 1868 berichtet N. seinem Freund Erwin Rohde von
der Intensität eines für ihn ganz neuartigen Musikerlebnisses, als er in einem
Konzert das Vorspiel „zu Tristan und Isolde" und die „Ouvertüre zu den Meis-
tersingern" hörte: „Ich bringe es nicht übers Herz, mich dieser Musik gegen-
über kritisch kühl zu verhalten; jede Faser, jeder Nerv zuckt an mir, und ich
habe lange nicht ein solches andauerndes Gefühl der Entrücktheit gehabt als
bei letztgenannter Ouvertüre" (KSB 2, Nr. 596, S. 332). - Schon am 8. November
1868 kann N. dem Freund auch seine erste persönliche Begegnung mit Richard
Wagner schildern. Im Hinblick auf seine spätere Polemik gegen Wagner, die
den Vorwurf des „Demagogische[n]" und Tyrannischen sowie der „Selbst-in-
Scene-Setzung" einschließt (NL 1885, 41 [2], KSA 11, 675), ist es symptomatisch,
dass N. das Unterhaltungstalent Wagners und seinen schauspielerhaften Habi-
tus von Anfang an deutlich wahrnimmt: „Vor und nach Tisch spielte Wagner
und zwar alle wichtigen Stellen der Meistersinger, indem er alle Stimmen imi-
tirte und dabei sehr ausgelassen war. Es ist nämlich ein fabelhaft lebhafter und
feuriger Mann, der sehr schnell spricht, sehr witzig ist und eine Gesellschaft
dieser privatesten Art ganz heiter macht. Inzwischen hatte ich ein längeres
Gespräch mit ihm über Schopenhauer: ach, und Du begreifst es, welcher Ge-
nuß es für mich war, ihn mit ganz unbeschreiblicher Wärme von ihm reden zu
hören, was er ihm verdanke, wie er der einzige Philosoph sei, der das Wesen
der Musik erkannt habe" (KSB 2, Nr. 599, S. 340-341).
N. betrachtet Richard Wagner geradezu als paradigmatischen Repräsentan-
ten eines Genies nach Schopenhauers Vorstellung. So erklärt er Erwin Rohde
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften