Metadaten

Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0327
Lizenz: In Copyright
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
300 Richard Wagner in Bayreuth

davon gehabt hat, was es mit mir auf sich habe"; für seine problembelastete
Existenz habe gerade Wagner „ein Mitgefühl" gehabt, so dass ihm „Triebschen
[sic] eine solche Erholung" habe werden können (KSB 7, Nr. 721, S. 207-208).
Eine kongeniale Empathie beschreibt N. auch am 12. November 1887 als Spezi-
fikum dieser Freundschaft: „Wenn ich R. Wagner ausnehme, so ist mir Nie-
mand bisher mit dem Tausendstel von Leidenschaft und Leiden entgegenge-
kommen, um mich mit ihm ,zu verstehn"' (KSB 8, Nr. 951, S. 196).
Demzufolge beansprucht N. auch lange nach der Entfremdung von Richard
Wagner noch ein Urteilsmonopol: In einem nachgelassenen Notat von 1885
erklärt er seine „Loslösung" von Wagner damit, dass er „sein Ideal ge-
schaut" und „die Enttäuschung vom Sommer 1876 nicht überwunden" habe,
„die Menge des Unvollkommenen, am Werke und am Menschen" (NL 1885, 34
[205], KSA 11, 491). Dennoch betont er abschließend mit einem geistesaristo-
kratischen Pathos der Distanz, „daß ich Niemandem so leicht das Recht zuge-
stehe, diese meine Schätzung zur seinigen zu machen, und allem unehrerbieti-
gem Gesindel [...] soll es gar nicht erlaubt sein, einen solchen großen Namen,
wie der R<ichard> W<agner>s ist, überhaupt in das Maul zu nehmen, weder im
Lobe, noch im Widerspruche" (NL 1885, 34 [205], KSA 11, 491).
Auch für Wagner selbst hatte die Freundschaft mit N. singuläre Bedeutung:
So bekundet er in einem Brief vom 7. Februar 1870, er habe N. „lieb gewon-
nen": „ich habe jetzt Niemand, mit dem ich es so ernst nehmen könnte, als
mit Ihnen, - die Einzige ausgenommen" (KGB II 2, Nr. 73, S. 145-146). Und am
25. Juni 1872 erklärt Wagner sogar: „Genau genommen sind Sie, nach meiner
Frau, der einzige Gewinn den mir das Leben zugeführt: nun kommt zwar glück-
licher Weise noch Fidi dazu; aber zwischen dem und mir bedarf es eines Glie-
des, das nur Sie bilden können, etwa wie der Sohn zum Enkel" (KGB II 4,
Nr. 333, S. 29). Erstaunlicherweise finden Isolde und Eva, die außerehelichen
Töchter von Richard Wagner und Cosima von Bülow, in diesem Bekenntnis
keine Erwähnung. Die mentale ,Adoption' N.s verbindet Wagner überdies mit
der pädagogischen Utopie, seinen Sohn Siegfried (Fidi), der am 6. Juni 1869
während N.s Aufenthalt in Tribschen geboren wurde, später in die Obhut N.s
als eines väterlichen Mentors zu geben (vgl. Borchmeyer 2008, 32-33).
N.s Strategie eines diplomatisch kalkulierten Werbens sicherte ihm in der
ersten Phase seiner Beziehung zu Richard Wagner rasch das Vertrauen des
neugewonnenen väterlichen Freundes. Dabei ging N. vorübergehend sogar so
weit, beflissen dessen antisemitische Tendenzen zu übernehmen, etwa wenn
er explizit den „germanischen Lebensernst" Wagners und Schopenhauers
rühmt und sich gegen „vordringliches Judenthum" wendet (vgl. KSB 3, Nr. 4,
S. 9). Nach seiner entschiedenen Distanzierung von Wagner attackiert N. dann
allerdings auch dessen Antisemitismus mit polemischer Schärfe, etwa wenn er
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften