Überblickskommentar, Kapitel IV.3: Ambivalentes Verhältnis zu Wagner 301
die „verfluchte Antisemiterei" am 2. April 1884 in einem Brief an Franz Over-
beck nachträglich sogar zur Ursache für den Dissens mit Wagner stilisiert: „sie
hat R<ichard> W<agner> und mich verfeindet" (KSB 6, Nr. 503, S. 493). Und
kurz vor seinem geistigen Zusammenbruch erklärt er dann in Nietzsche contra
Wagner: „Schon im Sommer 1876, mitten in der Zeit der ersten Festspiele,
nahm ich bei mir von Wagnern Abschied. Ich vertrage nichts Zweideutiges;
seitdem Wagner in Deutschland war, condescendirte er Schritt für Schritt zu
Allem, was ich verachte - selbst zum Antisemitismus ..." (KSA 6, 431, 23-27).
Im Hintergrund steht hier vor allem das antisemitische Pamphlet Das Juden-
thum in der Musik, das Wagner 1850 als Aufsatz zunächst nur unter Pseudonym
und 1869 dann in erweiterter Version unter seinem eigenen Namen publiziert
hatte.
In der Anfangsphase der Freundschaft jedoch fällt in N.s Briefen an Ri-
chard Wagner oft sogar ein serviler Gestus auf. Das gilt exemplarisch schon für
den Tenor von N.s erstem Brief an ihn: Hier bekundet N. am 22. Mai 1869,
also an Wagners 56. Geburtstag, er denke nur an dessen „großen Geistesbruder
Arthur Schopenhauer [...] mit gleicher Verehrung, ja religione quadam"; und
in der Schlussformel bezeichnet er sich dann emphatisch „als Ihren treusten
und ergebensten Anhänger und Verehrer" (KSB 3, Nr. 4, S. 8-9). Geradezu ha-
bituell werden in den Jahren des engen Kontakts mit Wagner superlativisch
forcierte Briefformeln wie die Anrede „Verehrtester Meister" (vgl. z. B. KSB 3,
Nr. 185, S. 271; KSB 4, Nr. 304, S. 144). Vgl. noch zahlreiche weitere Belege sol-
cher devoten Formeln N.s im Briefkontakt mit Richard Wagner (sowie Varian-
ten zu ihnen) in der Dokumentation von Borchmeyer/Salaquarda 1994 (Bd. 1,
106, 142, 150, 158, 188, 191, 193, 197, 206, 220, 224, 226, 222, 232, 250, 267, 283). -
Am 25. Dezember 1883, also mehr als zehn Monate nach Wagners Tod, reflek-
tiert N. dann allerdings halb gerührt, halb amüsiert, dass er durch den ersten
Verehrer, der ihn selbst als „verehrtester Meister!" titulierte, „anfange, zum
Erben Wagner's zu werden" (KSB 6, Nr. 478, S. 464). Und in einem Brief an
Carl Fuchs schreibt N. am 29. Juli 1888: „[...] Ein mir unbekannter Wiener Ver-
ehrer, der mich seinen ,Meister' nennt (oh!!!) und mich zu einer Art Groß-
muths-Akt gegen den Parsifal auffordert [...]" (KSB 8, Nr. 1075, S. 375).
Aber schon lange vor der Konzeption und Niederschrift von UB IV WB
zeugt bereits ein Brief, den N. am 2. März 1873 an Carl von Gersdorff richtet
(KSB 4, Nr. 298, S. 131-132), von N.s tiefreichenden Ambivalenzen gegenüber
Wagner, ja er offenbart sogar schwelende Konflikte:
„Gott weiß übrigens, wie oft ich dem Meister Anstoß gebe: ich wundere mich jedes mal
von Neuem und kann gar nicht recht dahinter kommen, woran es eigentlich liegt. Um so
glücklicher bin ich, daß jetzt wieder Frieden geschlossen ist. [...] Ich kann mir gar nicht
denken, wie man W. in allen Hauptsachen mehr Treue halten könne und tiefer ergeben
die „verfluchte Antisemiterei" am 2. April 1884 in einem Brief an Franz Over-
beck nachträglich sogar zur Ursache für den Dissens mit Wagner stilisiert: „sie
hat R<ichard> W<agner> und mich verfeindet" (KSB 6, Nr. 503, S. 493). Und
kurz vor seinem geistigen Zusammenbruch erklärt er dann in Nietzsche contra
Wagner: „Schon im Sommer 1876, mitten in der Zeit der ersten Festspiele,
nahm ich bei mir von Wagnern Abschied. Ich vertrage nichts Zweideutiges;
seitdem Wagner in Deutschland war, condescendirte er Schritt für Schritt zu
Allem, was ich verachte - selbst zum Antisemitismus ..." (KSA 6, 431, 23-27).
Im Hintergrund steht hier vor allem das antisemitische Pamphlet Das Juden-
thum in der Musik, das Wagner 1850 als Aufsatz zunächst nur unter Pseudonym
und 1869 dann in erweiterter Version unter seinem eigenen Namen publiziert
hatte.
In der Anfangsphase der Freundschaft jedoch fällt in N.s Briefen an Ri-
chard Wagner oft sogar ein serviler Gestus auf. Das gilt exemplarisch schon für
den Tenor von N.s erstem Brief an ihn: Hier bekundet N. am 22. Mai 1869,
also an Wagners 56. Geburtstag, er denke nur an dessen „großen Geistesbruder
Arthur Schopenhauer [...] mit gleicher Verehrung, ja religione quadam"; und
in der Schlussformel bezeichnet er sich dann emphatisch „als Ihren treusten
und ergebensten Anhänger und Verehrer" (KSB 3, Nr. 4, S. 8-9). Geradezu ha-
bituell werden in den Jahren des engen Kontakts mit Wagner superlativisch
forcierte Briefformeln wie die Anrede „Verehrtester Meister" (vgl. z. B. KSB 3,
Nr. 185, S. 271; KSB 4, Nr. 304, S. 144). Vgl. noch zahlreiche weitere Belege sol-
cher devoten Formeln N.s im Briefkontakt mit Richard Wagner (sowie Varian-
ten zu ihnen) in der Dokumentation von Borchmeyer/Salaquarda 1994 (Bd. 1,
106, 142, 150, 158, 188, 191, 193, 197, 206, 220, 224, 226, 222, 232, 250, 267, 283). -
Am 25. Dezember 1883, also mehr als zehn Monate nach Wagners Tod, reflek-
tiert N. dann allerdings halb gerührt, halb amüsiert, dass er durch den ersten
Verehrer, der ihn selbst als „verehrtester Meister!" titulierte, „anfange, zum
Erben Wagner's zu werden" (KSB 6, Nr. 478, S. 464). Und in einem Brief an
Carl Fuchs schreibt N. am 29. Juli 1888: „[...] Ein mir unbekannter Wiener Ver-
ehrer, der mich seinen ,Meister' nennt (oh!!!) und mich zu einer Art Groß-
muths-Akt gegen den Parsifal auffordert [...]" (KSB 8, Nr. 1075, S. 375).
Aber schon lange vor der Konzeption und Niederschrift von UB IV WB
zeugt bereits ein Brief, den N. am 2. März 1873 an Carl von Gersdorff richtet
(KSB 4, Nr. 298, S. 131-132), von N.s tiefreichenden Ambivalenzen gegenüber
Wagner, ja er offenbart sogar schwelende Konflikte:
„Gott weiß übrigens, wie oft ich dem Meister Anstoß gebe: ich wundere mich jedes mal
von Neuem und kann gar nicht recht dahinter kommen, woran es eigentlich liegt. Um so
glücklicher bin ich, daß jetzt wieder Frieden geschlossen ist. [...] Ich kann mir gar nicht
denken, wie man W. in allen Hauptsachen mehr Treue halten könne und tiefer ergeben