306 Richard Wagner in Bayreuth
frühzeitigen Angaben zu geplanten Reisen eine „sorgfältige Abwehr einer et-
waigen Einladung unserer Seits" betreibe (KGB II 4, Nr. 529a, S. 654-655).
Über diese Unterbrechungen des brieflichen und persönlichen Kontakts hi-
naus tragen noch weitere Faktoren zur allmählichen Entfremdung bei: Wag-
ner sieht sich durch N.s Urteile über Musik irritiert, etwa über Kompositionen
von Brahms, wie ein Tagebuch-Eintrag von Cosima Wagner (8. August 1874)
zeigt: „Nachmittags spielen wir das Triumphlied von Brahms, großer Schre-
cken über die Dürftigkeit dieser uns selbst von Freund Nietzsche gerühmten
Komposition, Händel, Mendelssohn und Schumann in Leder gewickelt; R.
wird sehr böse [...]" (Cosima Wagner: Tagebücher, Bd. I, 1976, 843-844).
Ganz anders schildert Elisabeth Förster-Nietzsche in ihrer Biographie Das
Leben Friedrich Nietzsche's die auf Brahms' Triumphlied bezogene Episode, in-
dem sie sogar eine provokative Inszenierung für möglich hält: Ihr Bruder habe
„den Clavierauszug des ,Triumphlieds'", das er mit ihr gemeinsam im Basler
Münster gehört und sehr goutiert habe, im „August 1874 nach Bayreuth" mitge-
nommen und den roten Band dort auf den Flügel gelegt - entweder „von dem
naiven Glauben geleitet, daß sich Wagner daran freuen müsse", oder sogar
mit der Absicht, ihn mit einer „Art Versuchsobject" bewusst zu provozieren;
jedenfalls sei „Wagner's ungeheurer Zorn" daraufhin „losgebrochen" (Förster-
Nietzsche 1897, Bd. II/1, 179-180). Mit einer nachträglichen selbstironischen
Einfärbung habe Wagner ihr später berichtet, „das rothe Buch" auf dem Flügel
habe ihn gereizt „gerade wie den Stier das rothe Tuch", weil N. dadurch habe
ausdrücken wollen: „sieh mal, das ist auch Einer, der was Gutes machen kann"
(ebd., 180). - Elisabeth Förster-Nietzsche behauptet, diese Geschichte sei von
Wagnerianern in eine „Phantasie" von „gekränkte[r] Eitelkeit" folgenden In-
halts transformiert worden: Ihr „Bruder habe Wagner eine von ihm selbst com-
ponirte Oper überreicht und Wagner habe entrüstet gesagt: sie sei nichts
werth, worüber sich mein Bruder tief gekränkt hätte und von Wagner abgefal-
len sei. Die Wahrheit ist freilich sehr anders" (ebd., 180). So suggestiv diese
Darstellung erscheint: bei Darstellungen von Elisabeth Förster-Nietzsche ist
ihre Tendenz zur Glorifizierung des Bruders mit Hilfe von Umdeutungen und
Verfälschungen immer mitzubedenken. Zu ihrer problematischen Rolle im N.-
Archiv und in der Geschichte der N.-Editionen (vor allem durch die berüchtigte
Nachlass-Kompilation Der Wille zur Macht) vgl. Katrin Meyer (NH 2000b, 437-
440) und David Marc Hoffmann (NH 2000, 440-443). Thomas Mann schreibt
zum obigen Vorfall: „Wenn Wagner [...] eine Brahmspartitur wütend vom Flü-
gel hinunterschmiß, so war eine solche Eskapade von Künstlereifersucht und
Alleinherrschaftswillen ein tiefer Schmerz für Nietzsche" (Bd. IX, 395-396).
Allerdings scheint N.s Dilettieren als Komponist in Bayreuth tatsächlich
befremdet zu haben, wie eine Tagebuch-Notiz von Cosima Wagner bereits am
frühzeitigen Angaben zu geplanten Reisen eine „sorgfältige Abwehr einer et-
waigen Einladung unserer Seits" betreibe (KGB II 4, Nr. 529a, S. 654-655).
Über diese Unterbrechungen des brieflichen und persönlichen Kontakts hi-
naus tragen noch weitere Faktoren zur allmählichen Entfremdung bei: Wag-
ner sieht sich durch N.s Urteile über Musik irritiert, etwa über Kompositionen
von Brahms, wie ein Tagebuch-Eintrag von Cosima Wagner (8. August 1874)
zeigt: „Nachmittags spielen wir das Triumphlied von Brahms, großer Schre-
cken über die Dürftigkeit dieser uns selbst von Freund Nietzsche gerühmten
Komposition, Händel, Mendelssohn und Schumann in Leder gewickelt; R.
wird sehr böse [...]" (Cosima Wagner: Tagebücher, Bd. I, 1976, 843-844).
Ganz anders schildert Elisabeth Förster-Nietzsche in ihrer Biographie Das
Leben Friedrich Nietzsche's die auf Brahms' Triumphlied bezogene Episode, in-
dem sie sogar eine provokative Inszenierung für möglich hält: Ihr Bruder habe
„den Clavierauszug des ,Triumphlieds'", das er mit ihr gemeinsam im Basler
Münster gehört und sehr goutiert habe, im „August 1874 nach Bayreuth" mitge-
nommen und den roten Band dort auf den Flügel gelegt - entweder „von dem
naiven Glauben geleitet, daß sich Wagner daran freuen müsse", oder sogar
mit der Absicht, ihn mit einer „Art Versuchsobject" bewusst zu provozieren;
jedenfalls sei „Wagner's ungeheurer Zorn" daraufhin „losgebrochen" (Förster-
Nietzsche 1897, Bd. II/1, 179-180). Mit einer nachträglichen selbstironischen
Einfärbung habe Wagner ihr später berichtet, „das rothe Buch" auf dem Flügel
habe ihn gereizt „gerade wie den Stier das rothe Tuch", weil N. dadurch habe
ausdrücken wollen: „sieh mal, das ist auch Einer, der was Gutes machen kann"
(ebd., 180). - Elisabeth Förster-Nietzsche behauptet, diese Geschichte sei von
Wagnerianern in eine „Phantasie" von „gekränkte[r] Eitelkeit" folgenden In-
halts transformiert worden: Ihr „Bruder habe Wagner eine von ihm selbst com-
ponirte Oper überreicht und Wagner habe entrüstet gesagt: sie sei nichts
werth, worüber sich mein Bruder tief gekränkt hätte und von Wagner abgefal-
len sei. Die Wahrheit ist freilich sehr anders" (ebd., 180). So suggestiv diese
Darstellung erscheint: bei Darstellungen von Elisabeth Förster-Nietzsche ist
ihre Tendenz zur Glorifizierung des Bruders mit Hilfe von Umdeutungen und
Verfälschungen immer mitzubedenken. Zu ihrer problematischen Rolle im N.-
Archiv und in der Geschichte der N.-Editionen (vor allem durch die berüchtigte
Nachlass-Kompilation Der Wille zur Macht) vgl. Katrin Meyer (NH 2000b, 437-
440) und David Marc Hoffmann (NH 2000, 440-443). Thomas Mann schreibt
zum obigen Vorfall: „Wenn Wagner [...] eine Brahmspartitur wütend vom Flü-
gel hinunterschmiß, so war eine solche Eskapade von Künstlereifersucht und
Alleinherrschaftswillen ein tiefer Schmerz für Nietzsche" (Bd. IX, 395-396).
Allerdings scheint N.s Dilettieren als Komponist in Bayreuth tatsächlich
befremdet zu haben, wie eine Tagebuch-Notiz von Cosima Wagner bereits am