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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0334
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Überblickskommentar, Kapitel IV.3: Ambivalentes Verhältnis zu Wagner 307

11. April 1873 verrät: „Uns verdrießt ein wenig die musizierende Spielerei unse-
res Freundes" (ebd., 669). Übrigens hatte N. seinem Verleger Ernst Wilhelm
Fritzsch, der auf Musikalien spezialisiert war, schon am 29. April 1872 „eine
vierhändige Composition" angeboten, dabei allerdings seine eigene Identität
verschleiert, indem er vorgab, sie von einem befreundeten englischen Kompo-
nisten namens George Chatham erhalten zu haben (vgl. KSB 3, Nr. 211, S. 312).
Für eine Publikation des von ihm selbst komponierten Stücks konnte er Fritzsch
aber nicht gewinnen (vgl. Schaberg 2002, 55). - Dass N. sogar noch 1882 glaubte,
er selbst habe „als Knabe" im Stil von Wagners Parsifal komponiert, offenbart
ein Brief (KSB 6, Nr. 272, S. 231 - vgl. das Zitat auf S. 317 dieses Kommentars).
In einem Brief an Erwin Rohde gesteht N. am 15. Februar 1874, er habe die
Ursachen für das Misslingen von Wagners Bayreuth-Projekt seit der Jahreswen-
de „mit der grössten Kälte" analysiert (KSB 4, Nr. 346, S. 202). Und schon vier
Tage zuvor kündigt er Malwida von Meysenbug nicht nur die baldige Zusen-
dung von UB II HL an, sondern schreibt zugleich auch über das „Leiden um
Bayreuth", um dann zu erklären, er habe inzwischen „alle Gründe scharf ge-
prüft, weshalb das Unternehmen [...] vielleicht scheitert" (KSB 4, Nr. 344,
S. 199). Dass N. noch am selben Tag in einem Brief an Carl von Gersdorff mit-
teilt, er habe „Richard Wagner in Bayreuth" schon „im Kopfe durchgedacht"
(KSB 4, Nr. 345, S. 200), legt die Annahme nahe, dass er den Tenor der Schrift
erheblich kritischer gestaltet hätte, wenn es Wagner nicht gelungen wäre, sein
Bayreuth-Projekt zu realisieren. Zahlreiche Indizien dafür sind in N.s nachge-
lassenen Notaten von 1874 und 1875 zu erkennen, die in moderaterer Form
bereits wesentliche Aspekte seiner späteren Polemik gegen Wagner antizipie-
ren.
Als symptomatisch für N.s wachsende Distanz zu Wagner kann eine zehn-
teilige Strukturskizze mit dem Titel „Richard Wagner in Bayreuth" gelten; sie
offenbart, wie kritisch die Darstellungsintention war, mit der N. schon 1874 die
Konzeption von UB IV WB anvisierte:
„1. Ursachen des Misslingens. Darunter vor allem das Befremdende. Man-
gel an Sympathie für Wagner. Schwierig, complicirt. / 2. Doppelnatur Wag-
ner's. / 3. Affect Ekstase. Gefahren [...] / 10. Das Befremden erklärt: vielleicht
gehoben?" (NL 1874, 32 [18], KSA 7, 760). - In anderen nachgelassenen Auf-
zeichnungen charakterisiert N. den Komponisten als musikalischen Rhetor und
als „Schauspieler-Natur" (NL 1874, 32 [10], KSA 7, 756): „Er steht zur Musik wie
ein Schauspieler: deshalb kann er gleichsam aus verschiedenen Musikerseelen
sprechen und ganz diverse Welten (Tristan, Meistersinger) nebeneinander hin-
stellen" (NL 1874, 32 [24], KSA 7, 762). „Die eine Eigenschaft Wagner's: Unbän-
digkeit, Maasslosigkeit, er geht bis auf die letzten Sprossen seiner Kraft, seiner
Empfindung [...]. Die andere Eigenschaft ist eine grosse schauspielerische Be-
 
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