310 Richard Wagner in Bayreuth
formuliren begann. Trotzdem wird es wahr bleiben: Nichts geht gerade so sehr
wider den Geist Schopenhauer's, als das eigentlich Wagnerische an den Hel-
den Wagner's: ich meine die Unschuld der höchsten Selbstsucht" sowie den
„Glaube[n] an die grosse Leidenschaft als an das Gute an sich, mit Einem Wor-
te, das Siegfriedhafte im Antlitze seiner Helden" (KSA 3, 455, 6-16). Die „Be-
zauberung" durch Schopenhauer habe Wagner gegen Denkalternativen „blind
gemacht; immer mehr will seine ganze Kunst sich als Seitenstück und Ergän-
zung der Schopenhauerschen Philosophie geben" (KSA 3, 455, 19-24).
Im später entstandenen Fünften Buch der Fröhlichen Wissenschaft führt N.
seine Problematisierung von Wagners Musikästhetik weiter, die er im Text 368
folgendermaßen zum Ausdruck bringt (KSA 3, 616, 29 - 618, 3):
„Meine Einwände gegen die Musik Wagner's sind physiologische Einwände: wozu diesel-
ben erst noch unter ästhetische Formeln verkleiden? Meine ,Thatsache' ist, dass ich nicht
mehr leicht athme, wenn diese Musik erst auf mich wirkt; dass alsbald mein Fuss gegen
sie böse wird und revoltirt - er hat das Bedürfniss nach Takt, Tanz, Marsch [...]. Meine
Schwermuth will in den Verstecken und Abgründen der Vollkommenheit ausruhn:
dazu brauche ich Musik. Was geht mich das Drama an! Was die Krämpfe seiner sittlichen
Ekstasen [...]! Was der ganze Gebärden-Hokuspokus des Schauspielers! ... Man erräth, ich
bin wesentlich antitheatralisch geartet, - aber Wagner war umgekehrt wesentlich Thea-
termensch und Schauspieler, der begeistertste Mimomane, den es gegeben hat, auch noch
als Musiker! .. Und, beiläufig gesagt: wenn es Wagner's Theorie gewesen ist ,das Drama
ist der Zweck, die Musik ist immer nur dessen Mittel', - seine Praxis dagegen war, von
Anfang bis zu Ende, ,die Attitüde ist der Zweck, das Drama, auch die Musik ist immer nur
ihr Mittel'. Die Musik als Mittel zur Verdeutlichung, Verstärkung, Verinnerlichung der
dramatischen Gebärde und Schauspieler-Sinnenfälligkeit; und das Wagnerische Drama
nur eine Gelegenheit zu vielen dramatischen Attitüden! Er hatte, neben allen anderen
Instinkten, die commandirenden Instinkte eines grossen Schauspielers, in Allem und Je-
dem: und, wie gesagt, auch als Musiker. [...] Im Theater ist man nur als Masse ehrlich;
als Einzelner lügt man, belügt man sich".
N. hat die Passage aus der Fröhlichen Wissenschaft (KSA 3, 616, 29 - 618, 14)
fast wörtlich in seine Schrift Nietzsche contra Wagner übernommen (KSA 6,
418, 20 - 420, 18), die er kurz vor seinem geistigen Zusammenbruch allerdings
nicht mehr zum Druck freigegeben hat.
Anders als im oben schon zitierten Nachlass-Notat (NL 1874, 32 [52], KSA 7,
770) vertritt N. in der Fröhlichen Wissenschaft und in Nietzsche contra Wagner
die Auffassung, Wagner instrumentalisiere Musik und Drama für die ,Attitüde'
als den eigentlichen Zweck (KSA 3, 617, 22-33). Aus argumentationsstrategi-
schen Gründen übergeht N. dabei die spätere, an den musikphilosophischen
Prämissen Schopenhauers ausgerichtete ästhetische Position Wagners. Offen-
bar setzt er jetzt voraus, dass die früheren theoretischen Konzepte des Kompo-
nisten weitaus mehr Übereinstimmungen mit seiner musikalischen Praxis er-
formuliren begann. Trotzdem wird es wahr bleiben: Nichts geht gerade so sehr
wider den Geist Schopenhauer's, als das eigentlich Wagnerische an den Hel-
den Wagner's: ich meine die Unschuld der höchsten Selbstsucht" sowie den
„Glaube[n] an die grosse Leidenschaft als an das Gute an sich, mit Einem Wor-
te, das Siegfriedhafte im Antlitze seiner Helden" (KSA 3, 455, 6-16). Die „Be-
zauberung" durch Schopenhauer habe Wagner gegen Denkalternativen „blind
gemacht; immer mehr will seine ganze Kunst sich als Seitenstück und Ergän-
zung der Schopenhauerschen Philosophie geben" (KSA 3, 455, 19-24).
Im später entstandenen Fünften Buch der Fröhlichen Wissenschaft führt N.
seine Problematisierung von Wagners Musikästhetik weiter, die er im Text 368
folgendermaßen zum Ausdruck bringt (KSA 3, 616, 29 - 618, 3):
„Meine Einwände gegen die Musik Wagner's sind physiologische Einwände: wozu diesel-
ben erst noch unter ästhetische Formeln verkleiden? Meine ,Thatsache' ist, dass ich nicht
mehr leicht athme, wenn diese Musik erst auf mich wirkt; dass alsbald mein Fuss gegen
sie böse wird und revoltirt - er hat das Bedürfniss nach Takt, Tanz, Marsch [...]. Meine
Schwermuth will in den Verstecken und Abgründen der Vollkommenheit ausruhn:
dazu brauche ich Musik. Was geht mich das Drama an! Was die Krämpfe seiner sittlichen
Ekstasen [...]! Was der ganze Gebärden-Hokuspokus des Schauspielers! ... Man erräth, ich
bin wesentlich antitheatralisch geartet, - aber Wagner war umgekehrt wesentlich Thea-
termensch und Schauspieler, der begeistertste Mimomane, den es gegeben hat, auch noch
als Musiker! .. Und, beiläufig gesagt: wenn es Wagner's Theorie gewesen ist ,das Drama
ist der Zweck, die Musik ist immer nur dessen Mittel', - seine Praxis dagegen war, von
Anfang bis zu Ende, ,die Attitüde ist der Zweck, das Drama, auch die Musik ist immer nur
ihr Mittel'. Die Musik als Mittel zur Verdeutlichung, Verstärkung, Verinnerlichung der
dramatischen Gebärde und Schauspieler-Sinnenfälligkeit; und das Wagnerische Drama
nur eine Gelegenheit zu vielen dramatischen Attitüden! Er hatte, neben allen anderen
Instinkten, die commandirenden Instinkte eines grossen Schauspielers, in Allem und Je-
dem: und, wie gesagt, auch als Musiker. [...] Im Theater ist man nur als Masse ehrlich;
als Einzelner lügt man, belügt man sich".
N. hat die Passage aus der Fröhlichen Wissenschaft (KSA 3, 616, 29 - 618, 14)
fast wörtlich in seine Schrift Nietzsche contra Wagner übernommen (KSA 6,
418, 20 - 420, 18), die er kurz vor seinem geistigen Zusammenbruch allerdings
nicht mehr zum Druck freigegeben hat.
Anders als im oben schon zitierten Nachlass-Notat (NL 1874, 32 [52], KSA 7,
770) vertritt N. in der Fröhlichen Wissenschaft und in Nietzsche contra Wagner
die Auffassung, Wagner instrumentalisiere Musik und Drama für die ,Attitüde'
als den eigentlichen Zweck (KSA 3, 617, 22-33). Aus argumentationsstrategi-
schen Gründen übergeht N. dabei die spätere, an den musikphilosophischen
Prämissen Schopenhauers ausgerichtete ästhetische Position Wagners. Offen-
bar setzt er jetzt voraus, dass die früheren theoretischen Konzepte des Kompo-
nisten weitaus mehr Übereinstimmungen mit seiner musikalischen Praxis er-