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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0341
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314 Richard Wagner in Bayreuth

dadurch ästhetischen Eigenwert abspricht: „Was auf Wagner stark wirkte, das
wollte er auch machen. Von seinen Vorbildern verstand er nicht mehr, als er
auch nachmachen könnte. Schauspieler-Natur. [...] / Die Musik ist nicht viel
werth, die Poesie auch <nicht>, das Drama auch nicht, die Schauspielkunst ist
oft nur Rhetorik - aber alles ist im Grossen Eins und auf einer Höhe" (NL 1874,
32 [10], KSA 7, 756).
Solche kritischen Urteile hat N. dann allerdings entweder in deutlich abge-
milderter Form oder gar nicht in die publizierte Schrift UB IV WB übernommen,
in der er auf Wagners theoretische Schriften aus dem Zeitraum zwischen 1849
und 1872 Bezug nimmt und ein stilisiertes, wenngleich von Vorbehalten keines-
wegs freies Porträt des Komponisten bietet. - Dennoch finden sich in der For-
schung konträre Einschätzungen. So liest etwa Martin Vogel UB IV WB als „ein
glühendes Bekenntnis zu Wagner", um anschließend die Frage, ob damals N.s
„persönliches Verhältnis" zu ihm bereits „getrübt" gewesen sei, „strikt zu ver-
neinen" (Vogel 1984, 121, 122), und zwar in einem offenkundigen Widerspruch
zur gut dokumentierten Quellenlage. Kurt Hildebrandt hingegen betont bereits
1924 den „skeptischen Einschlag" von N.s Entwürfen zu dieser Schrift, die die-
ser „als kritische einschränkende Besinnung" über Wagner konzipiert habe
(Hildebrandt 1924, 300, 299). In diesem Sinne erklärt später auch Thomas Bö-
ning, UB IV WB sei als „geschickte Kompilation von Wagnerschen Texten"
durchaus „nicht apologetisch gemeint", sondern „als Mahnung an Wagner"
adressiert, seinen „unzeitgemäßen Idealen treu zu bleiben" (Böning 1988, 327-
328). - Montinari formuliert bereits sechs Jahre früher analoge Einschätzungen
(vgl. Montinari 1982, 45, 46) und betont zugleich, es sei N. in UB IV WB „nur
mit äußerster Mühe" gelungen, eine Verbindungslinie „zwischen seiner Vision
der Zukunft und dem Kunstwerk Wagners herauszufinden" (ebd., 50).
Auf ähnliche Weise deutet übrigens Elisabeth Förster-Nietzsche im zweiten
Band ihrer Biographie Das Leben Friedrich Nietzsche's (1897) die Folgen der
„tiefe[n] Enttäuschung" ihres Bruders über die Bayreuther Festspiele von 1876,
die Wagner sehr irritiert habe: „Wagner war davon äußerst peinlich berührt!
Mein Bruder erschien ihm wie das verkörperte Gewissen [...]. Zu deutlich fühlte
Wagner, daß mein Bruder von ihm und dem Fest ein Idealbild gezeichnet hat-
te, das unerreichbar hoch über Beidem schwebte, - ein bitterer Vorwurf für die
Gegenwart!" (Förster-Nietzsche 1897, Bd. II/1, 256). Die Etappen der Entfrem-
dung zwischen ihrem Bruder und Wagner versucht sie unter Rekurs auf Schrif-
ten N.s und auf biographische Dokumente aus ihrer Sicht zu schildern (vgl.
ebd., 179-266). In Übereinstimmung mit mehrfach dokumentierten Auffassun-
gen N.s sieht sie das Naturell Wagners „bei aller Herzlichkeit und Wärme" zu-
gleich zu „Gereiztheit", Konkurrenzgefühl „gegen Rivalen" sowie zu „maßlo-
se[r] Heftigkeit" und „kleinliche[m] Mißtrauen" geneigt (ebd., 215). In dieser
 
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