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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0347
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320 Richard Wagner in Bayreuth

aufs Epigrammatische gebracht; eine Deutlichkeit der Musik als descriptiver
Kunst [...]; und, zuletzt, ein sublimes und außerordentliches Gefühl, Erlebniß,
Ereigniß der Seele im Grunde der Musik, das Wagnern die höchste Ehre macht,
eine Synthesis von Zuständen, die vielen Menschen, auch ,höheren Menschen',
als unvereinbar gelten werden, von richtender Strenge, von ,Höhe' im erschre-
ckenden Sinne des Worts, von einem Mitwissen und Durchschauen, das eine
Seele wie mit Messern durchschneidet — und von Mitleiden mit dem, was da
geschaut und gerichtet wird. Dergleichen giebt es bei Dante, sonst nicht. Ob
je ein Maler einen so schwermüthigen Blick der Liebe gemalt hat als W<agner>
mit den letzten Accenten seines Vorspiels?" (KSB 8, Nr. 793, S. 12-13). In der
„Nachschrift" zu Der Fall Wagner würdigt N. den „Parsifal" (allerdings in einem
Decadence-Kontext) geradezu emphatisch und charakterisiert sein „Raffine-
ment im Bündniss von Schönheit und Krankheit" sogar als „Geniestreich
der Verführung ... Ich bewundere dies Werk, ich möchte es selbst gemacht ha-
ben; in Ermangelung davon verstehe ich es ... Wagner war nie besser ins-
pirirt als am Ende" (KSA 6, 43, 14-19).
Immer wieder schließt N.s höchst ambivalente Passion für Wagner auch
positive und negative Extremurteile ein. Als seinen eigenen ,Anti-Parsifal' apo-
strophiert er sein Werk Also sprach Zarathustra, über das er später in Ecce
homo schreibt: „die Schlusspartie" des ersten Teils „wurde genau in der heili-
gen Stunde fertig gemacht, in der Richard Wagner in Venedig starb" (KSA 6,
335, 25 - 336, 2): eine Selbststilisierung, in der N. das Ende einer alten Kultur
mit dem Beginn einer neuen Kultur koinzidieren lassen will.
Wagners Tod am 13. Februar 1883 bewirkte bei N. einerseits eine schwere
psychosomatische Erschütterung, andererseits aber auch eine Erleichterung,
die er wenig später in einem Brief an Heinrich Köselitz so begründet: „ich glau-
be sogar, daß der Tod Wagners die wesentlichste Erleichterung war, die mir
jetzt geschafft werden konnte. Es war hart, sechs Jahre lang Gegner dessen
sein zu müssen, den man am meisten verehrt hat" (KSB 6, Nr. 381, S. 333). Und
seiner mütterlichen Freundin Malwida von Meysenbug macht N. am 21. Febru-
ar 1883 das folgende Geständnis: Obwohl ihm der Tod Wagners „fürchterlich
zugesetzt" habe, empfinde er ihn zugleich als „eine Erleichterung"; denn es
war „sehr hart, sechs Jahre lang Jemandem Gegner sein zu müssen, den man
so verehrt und geliebt hat", und „selbst als Gegner sich zum Schweigen verur-
theilen [zu] müssen - um der Verehrung willen, die der Mann als Ganzes
verdient. W<agner> hat mich auf eine tödtliche Weise beleidigt - ich will es
Ihnen doch sagen! - sein langsames Zurückgehn und -Schleichen zum Chris-
tenthum und zur Kirche habe ich als einen persönlichen Schimpf für mich
empfunden: meine ganze Jugend und ihre Richtung schien mir befleckt, inso-
fern ich einem Geiste, der dieses Schrittes fähig war, gehuldigt hatte" (KSB 6,
 
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