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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0355
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328 Richard Wagner in Bayreuth

ten Lebensphase ihres Mannes despektierliche Äußerungen über N.: Demnach
formulierte Wagner im Hinblick auf Originalitätsansprüche und charakterliche
Qualitäten am 3. Februar 1883, also zehn Tage vor seinem Tod, ein scharfes
Verdikt über den einstigen Freund, und zwar anlässlich einer Publikation über
Die fröhliche Wissenschaft: „ich spreche davon, und R[ichard] blickt hinein, um
seinen ganzen Widerwillen dagegen kund zu geben. Alles sei von Schopenhau-
er entlehnt, was Wert habe. Und der ganze Mensch sei ihm widerwärtig" (ebd,
1105). Am folgenden Tag hält sie fest: „R[ichard] sagt zu mir schließlich: Nietz-
sche habe gar keine eignen Gedanken gehabt, kein eignes Blut, alles sei frem-
des Blut, welches ihm eingegossen worden sei" (ebd., 1106). Und am 5. Febru-
ar, acht Tage vor Wagners Tod am 13. Februar 1883, notiert sie: „Nietzsche's
Erbärmlichkeit geht ihm auch wieder durch den Sinn" (ebd., 1106).
Dass bereits N.s UB IV WB Ambivalenzen und Vorbehalte gegenüber Wag-
ner enthält, zeigt nicht zuletzt ein Vergleich mit einigen ähnlichen Akzentset-
zungen in den polemisch auf Wagner fokussierten und zugleich tendenziell
auch selbstkritischen (vgl. KSA 6, 16, 17) Spätschriften Der Fall Wagner und
Nietzsche contra Wagner. - Darüber hinaus erweisen sich zahlreiche Nachlass-
Notate als aufschlussreich, die entweder zur gleichen Zeit entstanden sind wie
UB IV WB oder sogar schon in früheren Jahren. In ihnen treten N.s Ambivalen-
zen gegenüber Wagner erheblich stärker hervor, als es eine isolierte Lektüre
von UB IV WB vermuten ließe. Wie sehr N.s Perspektive auf Wagner bereits vor
der Konzeption dieser Schrift durch Vorbehalte unterminiert ist, und zwar vor
allem im Hinblick auf die (pseudo-)religiöse Stilisierung und Überhöhung der
Kunst, in der das frühromantische Konzept einer Kunstreligion weiterwirkt,
zeigt ein schon Anfang 1874 entstandenes Nachlass-Fragment. Hier betont N.
mit Nachdruck die eskapistische Grundtendenz von Wagners Kunst, die Funk-
tionen der Religion adaptiere und sich als probates Medium anbiete, um den
Anforderungen der Realität auszuweichen (NL 1874, 32 [44], KSA 7, 767-768):
„Wagner's Kunst ist überfliegend und transscendental [...]! Sie hat etwas wie Flucht aus
dieser Welt, sie negirt dieselbe, sie verklärt diese Welt nicht. Deshalb wirkt sie nicht direkt
moralisch, indirekt quietistisch. Nur um seiner Kunst eine Stätte in dieser Welt zu berei-
ten, sehen wir ihn beschäftigt und activ: aber was geht uns ein Tannhäuser Lohengrin
Tristan Siegfried an! Das scheint aber das Loos der Kunst zu sein, in einer solchen Gegen-
wart, sie nimmt der absterbenden Religion einen Theil ihrer Kraft ab. Daher das Bündniss
Wagner's und Schopenhauer's. [...] Selten ein heitrer Sonnenstrahl, aber viel magische
Zaubereien der Beleuchtung.
In einer solchen Stellung der Kunst liegt ihre Stärke und Schwäche: es ist so schwer,
von dort her zu dem einfachen Leben zurückzukehren. Die Verbesserung des Wirklichen
ist nicht mehr das Ziel, sondern das Vernichten oder das Hinwegtäuschen des Wirklichen.
Die Stärke liegt in dem sektirerischen Character: sie ist extrem und verlangt von dem
Menschen eine unbedingte Entscheidung".
 
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