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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0356
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Überblickskommentar, Kapitel IV.3: Ambivalentes Verhältnis zu Wagner 329

In UB IV WB versuchte N. seine wachsenden Vorbehalte noch zurückzudrän-
gen, indem er sich angesichts der bevorstehenden Eröffnungsfeier in Bayreuth
von einer inszenierten Festtagsstimmung tragen ließ. Gravierende gesundheit-
liche Probleme, aber auch seine ambivalente Einstellung zu diesem Festgetrie-
be selbst überlagerten dann allerdings die Euphorie. Das geht aus Briefen her-
vor, die N. in Bayreuth verfasste. So schrieb er am 25. Juli 1876: „Liebe gute
Schwester, / fast hab ich's bereut! Denn bis jetzt war's jämmerlich. Von Sonn-
tag Mittag bis Montag Nacht Kopfschmerzen, heute Abspannung, ich kann die
Feder gar nicht führen. / Montag war ich in der Probe, es gefiel mir gar nicht
und ich musste hinaus" (KSB 5, Nr. 544, S. 178-179). Nachdem N. zwischenzeit-
lich sogar abgereist war (vgl. ebd., S. 179), konnte er seine Schwester nur drei
Tage später über deutlich verbesserte physische Konditionen informieren; sie
ermöglichten es ihm sogar, eine Aufführung aus Wagners Tetralogie Der Ring
des Nibelungen, die während der Bayreuther Festspiele sogar in drei Zyklen
angeboten wurde (vgl. KSB 5, Nr. 545, S. 180), im Publikum mitzuerleben:
„Meine gute liebe Schwester, nun geht es besser, seit drei Tagen habe ich an
meinem Befinden nichts mehr auszusetzen [...]. Inzwischen habe ich die ganze
Götterdämmerung gesehn und gehört, es ist gut sich daran zu gewöhnen, jetzt
bin ich in meinem Elemente" (KSB 5, Nr. 545, S. 179). Am 1. August 1876 aller-
dings schrieb er ihr: „Gestern habe ich die Walküre nur in einem dunkeln Rau-
me mit anhören können; alles Sehen unmöglich! Ich sehne mich weg, es ist zu
unsinnig wenn ich bleibe. Mir graut vor jedem dieser langen Kunst-Abende"
(KSB 5, Nr. 546, S. 181). - Im Frühling des vorangegangenen Jahres hatte N. am
5. Mai 1875 in einem Brief an Mutter und Schwester noch mit Enthusiasmus
vermeidet, „der Clavierauszug der Götterdämmerung ist in den Buchhandlun-
gen erschienen, ich habe schon einen Blick hineingeworfen. Das ist der Him-
mel auf Erden" (KSB 5, Nr. 442, S. 46). Mit Bezug auf die vierte Oper von Wag-
ners Tetralogie Der Ring des Nibelungen prolongiert sich in dieser Aussage N.s
Tendenz zur Idealisierung und Glorifizierung des Komponisten, die seit dem
Kennenlernen durch zahlreiche Dokumente belegt ist.
Fünf Jahre nach Wagners Tod seziert N. in einem nachgelassenen Notat
vom Oktober 1888 noch radikaler als zuvor die vermeintliche ,Idealität' Wag-
ners, die ihm früher soviel bedeutete (vgl. dazu KSB 3, Nr. 16, S. 31; KSB 3,
Nr. 19, S. 36; KSB 3, Nr. 20, S. 37). Nun erscheint ihm der Idealismus und die
spätere religiöse Tendenz des einst atheistischen Wagner als eine Art von kom-
pensatorischer Selbstbetäubung, als antagonistischer Reflex auf eine manifeste
Sexual-Manie, die auch in die theoretischen Schriften Wagners hineinwirke
und sogar seine metaphorischen Wendungen bestimme. Zunächst betont N.
die Bedeutung einer „relative[n] Keuschheit" - insbesondere für den sinnlich
affizierbaren Künstler „unter der Gewalt seiner Aufgabe, seines Willens zur
 
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