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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0365
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338 Richard Wagner in Bayreuth

Schwester stolz und dankbar berichtet (KSB 3, Nr. 116, S. 172). - Vor allem aber
wurde Wagners Siegfried-Gestalt für N. selbst zur idealen Identifikationsfigur.
Aufschlussreich sind diesbezüglich die folgenden Darlegungen in seiner
Schrift Der Fall Wagner, die auch die Siegfried-Figur betreffen: „Wagner hat,
sein halbes Leben lang, an die Revolution geglaubt [...] er glaubte in Sieg-
fried den typischen Revolutionär zu finden. - ,Woher stammt alles Unheil in
der Welt?' fragte sich Wagner. Von ,alten Verträgen': antwortete er, gleich allen
Revolutions-Ideologen. Auf deutsch: von Sitten, Gesetzen, Moralen, Institutio-
nen, von Alledem, worauf die alte Welt, die alte Gesellschaft ruht. ,Wie schafft
man das Unheil aus der Welt? Wie schafft man die alte Gesellschaft ab?' Nur
dadurch, dass man den Verträgen' (dem Herkommen, der Moral) den Krieg
erklärt. Das thut Siegfried. Er beginnt früh damit, sehr früh: seine Entste-
hung ist bereits eine Kriegserklärung an die Moral - er kommt aus Ehebruch,
aus Blutschande zur Welt ... Nicht die Sage, sondern Wagner ist der Erfinder
dieses radikalen Zugs; an diesem Punkte hat er die Sage corrigirt [...] die
Götterdämmerung der alten Moral - das Uebel ist abgeschafft ... Wag-
ner's Schiff lief lange Zeit lustig auf dieser Bahn. Kein Zweifel, Wagner suchte
auf ihr sein höchstes Ziel" (KSA 6, 19, 27 - 20, 21).
Fünf Jahre nach Wagners Tod rechnet N. 1888 in seiner Spätschrift Der Fall
Wagner mit dem vermeintlichen Idealismus des Komponisten und zugleich
auch mit seiner eigenen Wagner-Verehrung ab; dabei forciert er seine Kritik bis
zu scharfer Polemik. Entsprechendes gilt für die Schrift Nietzsche contra Wag-
ner, die N. im Januar 1889, unmittelbar vor seinem geistigen Zusammenbruch,
allerdings nicht mehr zum Druck freigegeben hat. Auch andere nach UB IV WB
entstandene Werke und zahlreiche Nachlass-Notate lassen N.s Distanzierung
von Wagner deutlich erkennen (vgl. dazu die Belege in Kapitel IV.3 dieses Über-
blickskommentars). Die späteren Revisionen, Umkehrungen und Umwertungen
reichen bis zum dezidierten Widerruf seiner früheren Aussagen über Richard
Wagner. Von fundamentaler Bedeutung ist vor allem die folgende Neubewer-
tung: Während N. den Kompositionen Wagners - analog zu dessen eigenen
programmatischen Aussagen - noch in UB IV WB eine spezifische Innerlichkeit
zuschreibt, eine „Seele der Musik" (458, 12; 459, 2), welche das Äußerliche des
Schauspiels durchwirke, stellt er in den späten Antiwagneriana gerade das
Schauspielerhafte als das für Wagner Primäre und Wesentliche dar und demen-
tiert auch die früher an ihm so emphatisch hervorgehobene Idealität.
Zugleich desavouiert N. in seinen Spätschriften zu Wagner den noch im
9. Kapitel von UB IV WB positiv hervorgehobenen Kult der „Leidenschaft"
(492-494). Außerdem wendet er sich kritisch gegen das „Erhabene", das Wag-
ner mit einer Tendenz zum „Idealen" verbindet - ähnlich wie übrigens auch
N. selbst in seinen von Wagner nachhaltig beeinflussten Frühschriften. In der
 
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