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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0366
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Überblickskommentar, Kapitel IV.5: Struktur 339

Polemik Der Fall Wagner übt N. ironisch-subversiv Kritik an diesem Gestus:
„Einen letzten Rath! Vielleicht fasst er Alles in Eins. - Seien wir Idealis-
ten! [...] Um die Menschen zu erheben, muss man selbst erhaben sein. Wan-
deln wir über Wolken, haranguiren wir das Unendliche, stellen wir die grossen
Symbole um uns herum! Sursum! Bumbum! - es giebt keinen besseren Rath.
Der ,gehobene Busen' sei unser Argument, das ,schöne Gefühl' unser Fürspre-
cher" (KSA 6, 25, 26-33). - Anstelle eines vermeintlich idealistischen Ethos be-
tont N. nun die Bedeutung einer schauspielerhaften Inszenierung für Wagner,
der bloße Maskerade an die Stelle echter Überzeugung treten lasse. Nicht mehr
den authentischen Gefühlsausdruck stellt N. nun ins Zentrum, sondern die
suggestiven Strategien, mit denen Wagner als histrionische Persönlichkeit das
Publikum zu verführen trachte.

IV.5 Die Struktur des Gedankengangs in der Abfolge
der Kapitel
Wie bereits die drei vorangegangenen Unzeitgemässen Betrachtungen (UB I DS,
UB II HL und UB III SE) lässt auch UB IV WB (429-510) eine Binnendifferenzie-
rung erkennen: N. hat UB IV WB in elf nummerierte Kapitel von unterschiedli-
cher Länge gegliedert. - Durch Elemente eines kritischen Psychogramms weist
N.s Wagner-Porträt, das immer wieder auf kulturkritische Diagnosen hin trans-
parent wird, bereits auf seine spätere Polemik gegen den Komponisten voraus.
1.
Das erste Kapitel (431-435) von UB IV WB beginnt mit der Feststellung, die
Größe eines Ereignisses setze zweierlei voraus: Nötig sei „der grosse Sinn" sei-
ner Initiatoren und seiner Zeugen, mithin eine Übereinstimmung zwischen
„That und Empfänglichkeit" (431). Fehle hingegen eine dieser konstitutiven Vo-
raussetzungen, so werde selbst das bedeutendste Geschehen historisch nicht
dokumentiert und falle folgenlos dem Vergessen anheim. Daher müsse sich
ein um die Rezeption seines Werkes besorgter Mensch dafür engagieren, beide
Wirkungsbedingungen sicherzustellen, um den eigenen Einfluss in die Zukunft
zu perpetuieren.
Im Hinblick auf das Bayreuth-Projekt zählt N. sich selbst zu den „Vertrau-
ensvolleren" (432), die an Wagners Einsicht in die historische Berechtigung
und Bedeutung seiner Aktivitäten glauben. Das spezifische geistige Klima der
Festspiele leitet N. aus „tieferen Gründen" her (432), so dass das Publikum als
 
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