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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0367
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340 Richard Wagner in Bayreuth

Versammlung „unzeitgemässe[r] Menschen" seine innere Heimat nicht „in der
Zeit", sondern „anderswo" finde (432-433). Die zeitgenössische Kritik an Wag-
ner hingegen führt N. auf einen „Geist der Entfremdung und Feindseligkeit"
(433) zurück, der letztlich aus einem zu langsamen Entwicklungstempo und
einem Mangel an Innovationskraft entspringe und zudem von fehlender Bereit-
schaft zeuge, sich bereitwillig auf Wagners fundamentale Neuerungen einzu-
lassen.
N. selbst schreibt dem Komponisten emphatisch „die erste Weltumsege-
lung im Reiche der Kunst" zu (433), bei der er visionär „die Kunst selber ent-
deckt" habe (433). Vor dem Hintergrund seines hohen Anspruchs erscheinen
der gegenwärtige Kunstbetrieb und die moderne Bildungsform als obsolet. Die
Grundsteinlegung für das Bayreuther Festspielhaus im Jahre 1872 beschreibt
N. als singuläre „grosse That" Wagners (434), als Kulminationspunkt seines
bereits sechs Jahrzehnte umfassenden Lebens. Und die besondere historische
Dimension dieses Gründungsaktes betont er, indem er ihn hyperbolisch mit
den siegreichen militärischen Unternehmungen Alexanders des Großen analo-
gisiert.

2.
„Menschen von hervorragender Befähigung" (435) sieht N. im 2. Kapitel (435-
439) nicht nur durch charakterliche Qualitäten, sondern auch durch exzeptio-
nelles Talent und einen ausgezeichneten Intellekt bestimmt. Während einem
Epiker wie Goethe ein epischer Lebenslauf entspreche, sei einem Dramatiker
wie Wagner eine genuin dramatische Biographie gemäß. Im Laufe der Zeit
habe Wagner im „Drama seines Lebens" (437) die „Nebenschösslinge" (435)
seines Wesens konsequent einem alles dominierenden Willen unterworfen. Für
rätselhaft hält N. indes den „vordramatischen Theil" von Wagners Lebensge-
schichte (435), weil man seine Genialität in Kindheit und Jugend kaum habe
erahnen können. Vielmehr hätten sein nervöses Naturell und seine Exzentrik
damals sogar eher Anlass zur Skepsis als zu hochgespannten Erwartungen ge-
geben. Durch eine „gefährliche Lust an geistigem Anschmecken" (436) - so
N. - schien Wagner zum künstlerischen Dilettantismus geradezu prädestiniert.
Erst als Mann habe er die für künstlerische Produktivität notwendige jugendli-
che „Naivetät" erlangt (436). Das eigentliche Lebensdrama des zum Künstler
gereiften Komponisten führt N. auf die Polarität zweier Grundtendenzen zu-
rück: Nur durch eine „ganz reine und freie Kraft", durch einen milden, befrie-
denden Geist sei sein „heftiger Wille" von zerstörerischen Komponenten befreit
und ins Produktive gewendet worden (437). So allein sei es möglich gewesen,
 
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