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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0368
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Überblickskommentar, Kapitel IV.5: Struktur 341

die Gefahr seelischer Verwilderung durch ein Ressentiment produktiv zu be-
wältigen, das durch nachhaltige Frustration mächtiger, aber erfolgloser Impul-
se entstehe.
Von diesem Wendepunkt aus versucht N. durch die Figurenkonstellationen
von Wagners Opern einen weiteren Zugang zu seiner Natur zu finden. Er kon-
struiert eine Parallelität von Wagners eigener Persönlichkeitsentwicklung und
dem unterirdischen „Strom von sittlicher Veredelung und Vergrösserung"
(438), der die inneren Läuterungsprozesse in seiner Dichtung und Musik aus-
zeichne. Nach N.s Auffassung korrespondiert der musikalische Fortschritt
Wagners vom unruhigen Frühwerk bis zum künstlerischen Zenit im Zyklus Der
Ring des Nibelungen mit einem persönlichen Reifungsprozess, der sich durch
ein fruchtbares Zusammenwirken polarer Wesenskomponenten in seinen Wer-
ken manifestiere: in einer „Treue" (438-439), die auch die Figurenkonstellatio-
nen seiner Opern bestimme.
3.
Auf die spannungsreiche Balance von Wagners Charaktereigenschaften und
auf ihr komplexes Verhältnis der „Treue" geht N. auch im 3. Kapitel ein (439-
446). Das Gleichgewicht der konträren Wesenskomponenten sieht er durch die
Intensität von Wagners „daseinsfreudigen Begabungen" gefährdet (439), die
zudem heftig miteinander konkurrieren und die Integrität der Gesamtpersön-
lichkeit harten Belastungsproben aussetzen. Diese Dispositionen der modernen
Künstlerexistenz, unter denen der Komponist gelitten habe, wirkten auch in
die Konflikte der Protagonisten seiner Opern hinein. N. meint, die Funktion
des „Kapellmeisters an Stadt- und Hoftheatern" sei für Wagner problematisch
gewesen (440), weil sich der Ernst des Künstlers mit der Leichtfertigkeit dieser
Institutionen nicht habe vereinbaren lassen.
N. deutet Wagners ausschweifende Phantasie, die maßlos wirkende Selbst-
berauschung durch seine künstlerischen Ziele als kompensatorische Impulse,
die er benötigt habe, um die Entbehrungen und Frustrationen seiner wechsel-
haften Existenz zu verdrängen, Verzweiflung und Todessehnsucht abzuwehren
und zugleich die Hoffnung auf eine Erfüllung seiner größten Wünsche auf-
rechtzuerhalten (441). Je komplizierter sich Wagners Lebensweg im Laufe der
Zeit gestaltet habe, desto kühner und kreativer seien zugleich auch seine „Mit-
tel und Auswege" aus der Misere geworden, gleichsam als „dramatische Noth-
behelfe" (441). Diese Entwicklungen des Komponisten analogisiert N. mit
Konstellationen einer grotesken Komödie. Gerade aus Wagners spezifischem
Leidensdruck erklärt er seine Präferenz für die Dimension des Erhabenen, ja
sogar des „Geber-Erhabenen" (441).
 
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